Die Stuttgarter Nachrichten berichten in ihrer morgigen Ausgabe (hier), dass die Bauarbeiten am Baufeld 16 im Verzug sind, weil der Statiknachweis für den „Tiefbahnhof“ fehlt. Erst wenn dieser vorliegt, kann die Bodenplatte eingezogen und mit dem Bau der Stützkelche begonnen werden. Arbeiten, die nach dem Zeitplan eigentlich im Sommer 2015 laufen sollten. Die erste Stütze soll nun laut den StN erst im Sommer 2016 stehen.
Dies kommt zumindest für uns nicht ganz überraschend. Im Juni hatten wir noch darüber berichtet, dass das Eisenbahnbundesamt einen geotechnischen Sachverständigen beauftragt hatte, der die Pläne der Bahn für die Gründung des „Tiefbahnhofes“ und die wechselseitige Beeinflussung von Nachbarbebauung und Baugrube baubegleitend überprüfen soll. Die Konstruktion des „Tiefbahnhofes“ mit seinen Kelchstützen und Lichtaugen sowie der geologisch schwierige Untergrund stellt – so ist auf der Webseite des beauftragten Sachverständigenbüros zu lesen – hohe Anforderungen an die Gründung dar, da „das Kelchdach sehr empfindlich auf Setzungsdifferenzen reagiert“. Für die Gründung des „Tiefbahnhofes“ sowie seiner Anfahrbereiche am Nord- und Südkopf sind über 4.000 Ramm- bzw. Bohrpfähle erforderlich. Er wies in seinem Vortrag im Juni 2015 an der Universität Stuttgart auf eine Reihe von nicht vorliegenden Nachweisen hin, die er zu Beginn seiner Prüfung angetroffenen habe. Unter anderem fehlte der Nachweis für die zusätzlichen Belastungen durch die geplanten Bodenaufschüttungen von bis zu 6 Metern auf dem Dach des „Tiefbahnhofs“. In seinem Vortrag erwähnte er, dass neben ihm auch noch ein Gutachter für die Statik und ein Bodengutachter vom EBA beauftragt wurde, mit denen er eng zusammenarbeitet. Den aktuell fehlenden statischen Nachweis wird der vom EBA beauftragte Gutachter für die Statik eingefordert haben.
Wir hatten auch im August 2015 berichtet, dass die Tiefbauarbeiten am Referenzbaufeldes 16 kaum vorankommen. Angesichts des fehlenden Statiknachweises für den Tiefbahnhof wird sich auf dem Baufeld 16 auch in den nächsten Monaten bis auf die Kanalbauarbeiten nicht viel tun. Da erscheint der von der Bahn inszenierte Medienhyp um den Modellkelch in einem anderen Licht. Manfred Leger, Vorstand der Projektgesellschaft, sprach bereits bei der ersten Besichtigung des Achtelsegments von einem „riesen Meilenstein“ für das Projekt.
Letzten Dienstag gaben der Architekt Christoph Ingenhoven und der Sachverständige für den Betonbau nach der zweiten Besichtigung zusammen mit Manfred Leger eine Pressekonferenz, die Sie sich auf Cam21 anschauen können. Die Pressekonferenz ist in zweierlei Hinsicht interessant. Zum einen für Interessierte wegen der technischen Infos zur anspruchsvollen Betonierung der Lichtkelche. So spielt beispielsweise allein die Temperatur beim Aushärteprozess eine erhebliche Rolle bei der Ausbildung der Farbe. Zum anderen aber auch wegen der Statements der Projektverantwortlichen zum Zeitplan. Sowohl Christoph Ingenhoven als auch Projekt-Chef Manfred Leger gehen weiterhin unbeirrt von einer Inbetriebnahme des Tiefbahnhofs im Dezember 2021 aus. Und dies trotz der bereits eingetretenen Verzögerung von mehr als 2,5 Jahren, der anspruchsvollen Baugewerke, des schwierigen Untergrunds und des -wie jetzt bekannten- fehlenden Statiknachweises für den „Tiefbahnhof“.
Stattdessen setzt der Architekt Christoph Ingenhoven die Stadt Stuttgart wegen der Bebauung des aus seiner Sicht bereits unmittelbar nach Ende 2021 freiwerdenden Gleisvorfeldes unter Druck. Man könne doch nicht Jahre nur in ein „Loch“ hinter dem neuen „Tiefbahnhof“ schauen. Die Stuttgarter Zeitungen berichteten darüber (StZ 1/StZ2 / StN). Dabei ist der von Ingenhoven skizzierte Zeitdruck völlig unrealistisch und missachtet die zeitlichen Abhängigkeiten. Wir hatten ja bereits darüber berichtet, dass eine Bebaubarkeit des freiwerdenden Geländes auch nach Einschätzung des früheren Baubürgermeisters und S21-Befürworters Matthias Hahn erst Jahre nach der Inbetriebnahme von Stuttgart 21 möglich ist. (Dass die Stuttgarter seit bald 4 Jahren erst auf die Baubrache im gerodeten mittleren Schlossgarten und jetzt in die „Löcher“ der Trogbaufelder seines „Lichtaugen-Bahnhofs“ wegen fehlender Genehmigungen und Umplanungen mit nur schleppenden bis keinen Baufortschritt schauen, stört den Architekten anscheinend nicht.)
Zur Tragfähigkeit der Lichtaugen erklärte der Architekt laut StZ trocken: „Darauf können die VfB-Fans auch die Meisterschaft feiern, aber das kommt ja nicht so bald vor“. Doch vom dem dafür auch noch fehlenden Statiknachweis des „Tiefbahnhofs“ war jedenfalls weder in der Pressekonferenz noch auf der anschließenden Podiumsveranstaltung „Faszination Stuttgart 21 – vom Musterkelch zum Lichtaugen-Bahnhof„, an der auch der Ingenieur und Tragswerksplaner Prof. Werner Sobek teilnahm, nicht die Rede. Im Gegenteil. Mehrfach betonten die für die Statik verantwortlichen Ingenhoven und Sobek die Stabilität des Bauwerks mit den Kelchstützen, die ohne weiteres auch die tonnenschweren Erdschichten tragen könnten. Die Veranstaltung können Sie in drei Teilen unter Cam21 anschauen (Teil 1 / Teil 2 / Teil 3 ).
Update 17.10.2015: Die Stuttgarter Nachrichten berichten heute (hier) noch ausführlich für den fehlenden Nachweis der Standsicherheit, der aufgrund geänderter Normen erforderlich sei und den der Architekt Ingenhoven und der Tragwerksplaner Prof. Sobek noch liefern müssen: „Die Planung für den Bahnhofstrog sei 2012 weitgehend abgeschlossen gewesen, „mit Nachweisen“, sagt Thomas Hauser, Bauleiter der Züblin AG. Mit der Novellierung einer bahninternen Richtlinie und dem Wechsel von DIN-Normen auf europaweit gültige Vorgaben hätten diese Nachweise im Jahr 2014 vollends ihr Gültigkeit verloren, so Hauser. In die neuen Vorgaben sei zum Beispiel der Erdbebenschutz aufgenommen worden. „Wir als Züblin bauen nur“, weist Hauser jede Verantwortung für mögliche Versäumnisse von sich.“ Die Standsicherheit der Pfähle hingegen hätten Test bestätigt.
Die StN kommentieren dies mit den Worten: „Das ist das Komplizierteste, was man im Bereich Bauen mit Stahlbeton je gemacht hat“, sagte Staringenieur Sobek. Wenn man diese Worte im Ohr hat, ist es ernüchternd, wenige Tage später zu erfahren, dass das Eisenbahn-Bundesamt noch auf den Nachweis der Tragfähigkeit des Tiefbahnhofs wartet, was ja keine unbedeutendes Detail ist, sondern eine Information, mit der das Bauwerk – um im Wort zu bleiben – steht oder fällt. Die Tragweite dieses Versäumnisses lässt sich aus Sicht des Laien schwer beurteilen. Die Bahn betrachtet den fehlenden Nachweis eher als Formalie, die keinen nennenswerten Verzögerungen zur Folge habe. Kritiker des Bahnprojekts dürften eine andere Lesart haben: Die Bahn hat die Statik-Panne verschwiegen, jetzt kann sie einem vieles erzählen . …“.
Wahrscheinlich erfordert allein schon die geplante Verschiebung der Fluchttreppenhäuser an das Ende der Bahnsteige einen neuen statischen Nachweis.
Im Parkschützerforum (Link 1 / Link 2) wird der fehlende Statiknachweis heftig diskutiert. Unter anderem findet sich da der Hinweis, dass Ulrich Ebert von den Ingenieuren22 bereits im Oktober 2012 in einer Montagsdemorede auf die erforderliche neue Genehmigung der Statik im Zuge des Brandschutzkonzeptes hingewiesen habe: „Nach dem Brandschutzgutachten ist auch der Trog nicht genehmigungsfähig, weil zusätzliche Fluchtreppenhäuser usw. erforderlich sind. Das wiederum macht die Statik zunichte. Dass die keine Statik für den Trog haben, hatten wir vorher aus der Sicht des Untergrundes und der Geologie, jetzt also noch mal aus Sicht der Brandschutz-Umplanung. Der komplette Trog muss einschließlich Verteilerebenen völlig umgeplant werden – Für Herrn Kefer offenbar eine Lappalie.“ Seine Rede finden Sie hier.
Auch wird auf ein Interview in der StZ (hier) aus dem Jahr 2010 mit dem renommierten und mittlerweile verstorbene Tragwerksplaner Frei Otto aufmerksam gemacht. Er wies darin auf die kritischen Punkte des von ihm mitentworfenen „Lichtaugen-Bahnhofs“ hin, u.a. auch auf die Geologie und die ihm nicht vorliegende Statikprüfung: „Eine Empfehlung, Stuttgart 21 nun zu stoppen, will der 85-Jährige ausdrücklich nicht geben. „Aber es liegen mittlerweile viele neue Informationen vor, über die Wirkung des Anhydrits, über die Fundamentierung in durchweichtem Baugrund wie dem Stuttgarter Talkessel“, weist er auf die veränderten Voraussetzungen hin… Auf die Frage des 85-jährigen Otto, wer denn nun als Prüfingenieur die heikle Statik verantwortet, hat er keine Antwort von offizieller Seite erhalten. „Ist denn überhaupt einer bestellt?“, fragt er. „