Der Charme des innerstädtischen Bauens oder wie die Bahn bei Stuttgart 21 durch unzureichende Lärmgutachten an Grenzen kommt

Die Bahn musste vor wenigen Wochen vor dem Umwelt- und Technikausschuss des Gemeinderates (UTA) in einem Offenbarungseid einräumen, dass ihre bisherigen Lärmprognosen sowohl für das Kernerviertel als auch für die Wohngebiete Wartberg und Dornbusch am Zwischenangriff Prag viel zu niedrig berechnet waren. Im Kernerviertel ist jetzt der Bau einer 60 Meter langen und 10 Meter hohen Lärmschutzwand und eines Schallschutzdaches an der Rettungszufahrt neben dem Wagenburgtunnel geplant. Am Wartberg hat die Bahn die Überdachung des Zwischenangriffs Prag in der Größe eines Fussballfeldes angekündigt. Von „Die Bahn kommt an ihre Grenzen“ und dem „Charme des innerstädtischen Bauens“ ist mittlerweile die Rede.

Doch worauf basieren diese langjährigen Fehleinschätzungen bzw. dass erst jetzt das eigentliche Konfliktpotential des innerstädtischen Bauens deutlich wird? Immerhin war der Bauherrin Bahn und dem Eisenbahn-Bundesamt (EBA) bewusst, dass bei Stuttgart 21 der gesamte Bahnknoten einer Großstadt mit 59 Kilometer Tunnelstrecken unter die Erde „verbuddelt“ werden soll.

Zu laute Baustellen sind kein Naturgesetz, sondern auch eine Folge schlechter Planung und fehlender behördlicher Kontrolle. Man muss leider feststellen, dass sich unzureichende Lärmgutachten bislang wie ein roter Faden durch das Großprojekt Stuttgart 21 ziehen. Die Realisierung von Stuttgart 21 sollte trotz der vielen jahrelangen innerstädtischen Baustellen nicht gefährdet werden. Die  Lärmgutachten in der Planfeststellung wurden damals nur als reine Machbarkeitsstudie im Sinne einer oberen Abschätzung verstanden.

Vor Baubeginn sollte die eigentliche Lärmbelastung auf Basis der Ausführungsplanung in abschnittsübergreifenden und umfassenden schalltechnischen Gutachten ermittelt werden. Im Planfeststellungsbescheid des PFA 1.1. heißt es dazu auf Seite 44f: „Die Vorhabenträgerin [die Bahn] wird verpflichtet, dem Eisenbahn-Bundesamt rechtzeitig vor Baubeginn auf der Grundlage der schalltechnischen Untersuchung zum Baubetrieb (Anlage 16.2) für die Baugruben, Baubetriebsflächen und Baustraßen schalltechnische Detailgutachten vorzulegen. Die Gutachten sind abschnittsübergreifend zu erarbeiten, d.h. es sind jeweils sämtliche, gleichzeitig auftretenden Schallimmissionen zu berücksichtigen, unabhängig von der Zuweisung zu einem bestimmten Planfeststellungsabschnitt. Die Schallgutachten haben auch über die Wirksamkeit von Schallminderungsmaßnahmen Auskunft zu geben.“

Jetzt stellt sich heraus, dass die Lärmprognosen, die im Rahmen der Planfeststellung im Sinne einer oberen Abschätzung gemacht wurden, zum Teil weit übertroffen werden. Die Unzulänglichkeiten im Immissionsschutz hätten für jede Fachbehörde und für jeden seriösen Planer viel früher erkennbar sein müssen – zu einem Zeitpunkt, bevor über das Milliardenprojekt, dessen Kostenrahmen mittlerweile die Wirtschaftlichkeitsgrenze gesprengt hat, entschieden wurde.

Das Netzwerk Kernerviertel hatte schon seit über 1 1/2 Jahren auf unzureichende Lärmplanungen für das Wohngebiet und eine fehlende Überprüfung dieser Lärmgutachten hingewiesen sowie das EBA und die Stadt Stuttgart zum Handeln aufgefordert. Wir haben mehrfach darüber berichtet (18.03.2014 / 02.06.2014 /10.Juli 2014 /03.08.2014 /08.08.2014 / 17.08.2014 / 01.11.2014 /19.11.2014 /10.12.2014 / 11.12.2014 / 26.01.2015 /12.04.2015 /23.04.2015 / 29.04.2015). Bei den schalltechnischen Untersuchungen für Stuttgart 21 mussten die Netzwerke bislang folgende Defizite feststellen:

  • Den Lärmplanungen wurden unrealistische Bauszenarien zugrunde gelegt.
  • Die Lärmpegel wurden nicht auf einer realistischen Basis berechnet.
  • Es wurden den Lärmberechnungen zu kurze Betriebszeiten der Baumaschinen zugrundegelegt.
  • Der im Nachtzeitraum maximal zulässige Spitzenpegel wurde nicht beachtet.

Die berechtigten Kritikpunkte wurden vom EBA als Aufsichtsbehörde, das die Lärmgutachten eigentlich inhaltlich prüfen sollte, und der Bahn lange Zeit ignoriert. Erst nach den erfolgten Lärmmessungen scheint der Vorstand der DB Projekt Stuttgart-Ulm GmbH erkannt zu haben, dass hier Handlungsbedarf besteht. Bei einer Anwohnerklage könnten Stuttgart-21- Baustellen wegen Verletzung des Immissionsrechtes bzw. der Auflagen aus der Planfeststellung vorübergehend still gelegt werden.

Man könnte meinen, die Bahn hat aus ihrem Waterloo vor dem UTA Konsequenzen gezogen. Mitnichten. Auch bei der aktuellsten schalltechnischen Untersuchung für den PFA 1.5. vom Juli 2015 sind wieder einige der o.g. Kritikpunkte zu finden. Das Netzwerk Killesberg hat sich deswegen in einem Schreiben an den Vorstand der DB Projekt Stuttgart-Ulm GmbH gewandt. Und es wird noch absurder.  Nur wenige Tage später stellte die DB Projekt in kleinem Kreis den Eigentümern wieder ein ganz anderes und nicht von der Planfeststellung abgedecktes Baustellenszenario für den Zwischenangriff Prag mit Förderband und Güterzugabfuhr vor. Die Anwohner können sich nur noch verschaukelt fühlen. Dies nagt sehr an der Glaubwürdigkeit der Bahn, von der man eigentlich jetzt in Sachen Immissionsschutz ein seriöseres Vorgehen erwartet hatte. Dabei sind die Probleme bei der Bahn hausgemacht.

Die Netzwerke haben schon mehrfach auf den Interessenkonflikt hingewiesen, dem der derzeitige Immissionsschutzbeauftragte Peter Fritz unterliegt. Das Gutachterbüro Fritz GmbH war für die Bahn bei Stuttgart 21 von Anfang an tätig,  hat die Bahn bei den Prozessen gegen die Planfeststellungsbeschlüsse vertreten und die unzureichenden Lärmgutachten rechtfertigt. Er war also seit über einem Jahrzehnt von der Bahn beauftragt und kann deshalb nicht unabhängig im Sinne des Immissionsschutzgesetzes seiner Aufgabe als Immissionsschutzbeauftragter im Interesse der Allgemeinheit und der Betroffenen gerecht werden. Er kontrolliert quasi die Einhaltung seiner eigenen Gutachten. Die Netzwerke haben daher gefordert, den Immissionsschutzbeauftragten Peter Fritz unverzüglich abzulösen.

Auch bei der Verzahnung zwischen Ausführungs- und Immissionsplanung hakt es gewaltig. Vertreter des Netzwerks Kernerviertel mussten bei dem Vor-Ort-Termin auf der Trogbaustelle feststellen, dass weder der neue Abschnittsleiter der Bahn für den PFA 1.1. noch der anwesende verantwortliche Ansprechpartner von Züblin die schalltechnische Untersuchung des Gutachters für den Trogbau mit den weiterhin zu kurzen Bauzeiten kannten. Auch das Eisenbahn-Bundesamt prüft nicht die Gutachten und die den Lärmplanungen zugrunde gelegten Bauszenarien. Die Stadt Stuttgart, die sich beim Immissionsschutz von Stuttgart 21 als nicht zuständig erklärt, erst recht nicht. Da fragt man sich, wer außer den Netzwerken sich die Lärmgutachten bei Stuttgart 21 überhaupt näher anschaut.

In Sachen Immissionsschutz bei Stuttgart 21 stimmt also vieles nicht. Unzureichende Lärmgutachten zur Ermittlung der erforderlichen Schutzmaßnahmen sind die Konsequenz. Daher möchten wir aufzeigen, welche konkreten Defizite in der Lärmplanung bei beiden Baustellen rund um das Kernerviertel und den Zwischenangriff Prag gemacht wurden, die jetzt der Bahn bereits in der ersten Phase des Projektes auf die „Füße fallen“:

1. Den Lärmplanungen wurden unrealistische Bauszenarien zugrunde gelegt

Selbstverständlich ist es nicht einfach für ein Großprojekt dieser Größenordnung wie Stuttgart 21 vor der Baugenehmigung die Lärmbelastungen für die Umgebung zu ermitteln. Daher verstanden sich die schalltechnischen Untersuchungen im Rahmen der Planfeststellung nur als Machbarkeitsstudien im Sinne einer oberen Abschätzung der Lärmszenarien. Die eigentliche Detailplanung sollte auf Basis der Ausführungsplanung vor Start der Bauarbeiten erstellt werden. Doch sowohl in der Planfeststellung als auch in den schalltechnischen Gutachten vor Baubeginn wurden den Lärmplanungen unrealistische Bauszenarien zugrundegelegt.

So wurde in der Planfeststellung des PFA 1.2. bei der Rettungszufahrt Süd neben dem Wagenburgtunnel zwar ein Förderband zum Abtransport des Aushubs aus dem Tunnelvortrieb Richtung Wangen und Degerloch genehmigt. Dass wegen dem eingesetzten Sprengvortrieb ein Steinbrecher erforderlich ist, wurde „übersehen“. Jedenfalls enthalten weder die schalltechnischen Untersuchungen zur Planfeststellung noch die aktuellen Gutachten den Lärmwert einer solchen Anlage. Bereits bei der Planfeststellung hätte damit abgeklärt werden müssen, ob dieser innerstädtische Tunnelzwischenangriff mit einer Überdachung schallgeschützt werden muss.

Dass diese Überdachung bei vergleichbaren Tunnelbaustellen Standard ist und man dies auch bei der Entscheidung für die Rettungszufahrt Süd hätte berücksichtigen müssen, zeigt der Auszug aus dem Planfeststellungsbescheid des PFA 1.5. zum Zwischenangriff Prag. Darin wurde ein vom Infoladen vorgeschlagenes Förderband aus wirtschaftlichen Gründen von der Bahn und dem Eisenbahn-Bundesamt verworfen, da dafür ein Steinbrecher und eine Überdachung der Tunnelbaustelle erforderlich sei.

Beim Zwischenangriff Prag wurde stattdessen die Baulogistik mit Lkw-Transporten in der Planfeststellung genehmigt. Doch bereits damals war klar, dass auch dieses Bauszenario im Nachtzeitraum zu Konflikten führen kann. So erteilte das Eisenbahn-Bundesamt der Bahn in den Nebenbestimmungen des Planfeststellungsbeschlusse PFA 1.5. auf Seite 78 u.a. die Auflage, dass der erforderliche Erdumschlag am Zwischenangriff Prag im Nachtzeitraum weitestgehend zu minimieren ist. Jetzt zeigt sich, dass dieses Bauszenario einer reduzierten nächtlichen Baulogistik nicht in der Praxis umsetzbar ist. Die Bahn baut nicht das erste Mal Tunnel. Der immissionsrechtliche Konflikt hätte für den Zwischenangriff Prag bereits in der Planfeststellung berücksichtigt und entsprechende Schutzauflagen für den Baustellenbetrieb abgeklärt werden müssen.

Auch bei den mehrjährigen Trogbauarbeiten rund um den Hauptbahnhof sind deutliche Planungsfehler mit unrealistischen Bauszenarien gemacht worden. Sowohl die schalltechnische Untersuchung im Zuge der Planfeststellung als auch das erste Gutachten vom Juli 2013 enthielten kein realistisches Bauszenario für die Trogbauarbeiten am Südkopf/ Kernerviertel. Wir haben darüber in unserem Beitrag „Ja, mach nur einen Plan: Wie bei den Lärmprognosen für den Tiefbahnhoftrog getrickst wurde“ berichtet. Es fehlte u.a. der Baulärm des Baufeldes 25 in unmittelbarer Nähe der Wohngebäude des Kernerviertels und der gleichzeitige Bau an mehreren Trogbaufeldern. Die erforderlichen aktiven und passiven Schutzmaßnahmen für das Kernerviertel, darunter auch die Schallschutzfenster, wurden folglich auf einem zu niedrigen Lärmszenario bemessen.

Auf massive Kritik des Netzwerks Kernerviertel legte die Bahn im Dezember 2014 eine neue und erstmals abschnittsübergreifende schalltechnische Untersuchung vor. Die Untersuchung enthielt u.a. erstmals auch den Baulärm für das Trogbaufeld 25. Entsprechend stiegen die ermittelten Lärmwerte im Umkreis der Baustelle (Sängerstraße, Willy-Brandt-Str.) deutlich an. Zum Teil auch auf 80 dB(A) und damit über dem verfassungsrechtlich zumutbaren Schwellenwert von 70 dB(A).  Der Bau der Lärmwand ist auch eine Reaktion der Bahn auf diese hohen Lärmwerte.

Bis heute liegen wegen einer noch nicht abschließend abgestimmten Ausführungsplanung keine umfassende Lärmprognose für das Kernerviertel vor. So sind die mehrjährigen Bauarbeiten für den Nesenbachdüker und die neue SSB-Haltestelle, für die u.a. viele Bohrpfähle gesetzt werden müssen, bislang nur mit einem pauschalen Emissionswert aus der Planfeststellung in den Lärmgutachten für das Kernerviertel berücksichtigt.

Und die in den schalltechnischen Untersuchungen angesetzte Bauzeit für die Herstellung eines Trogbaufeldes weicht mit max. 32 Wochen gravierend von den Zeitplänen der Bahn ab, die dafür mindestens 1,5 Jahre vorsehen. Zwar übersteigt auch der zu niedrig angesetzte Zeitraum die 2-Monatsfrist, ab der Anspruch auf passiven Schallschutz besteht. Aber Phasen der massiven Belastung durch gleichzeitig laute Bauarbeiten für den Trogbau, den Nesenbachdüker und den SSB-Bau, bei denen eine Entschädigung wegen Nicht-Nutzung der Außenbereiche oder bei nicht umsetzbaren Schallschutz ggf. auch eine vorübergehende Hotelunterbringung geprüft werden müsste, sind damit zeitlich nicht einschätzbar. Das Netzwerk Kernerviertel hat dazu erneut bei der Bahn nachgehakt.

2. Die Lärmpegel wurden nicht auf einer realistischen Basis berechnet

Laut Planfeststellungsbescheid wurde das Lärmszenario für die 8,5-jährigen Bauarbeiten für den Bahnhofstrof auf Basis einer oberen Abschätzung ermittelt.  Dem ist nicht so. In der Planfeststellung wurde die Lärmbelastung für das Kernerviertel durch die langjährigen Trogbauarbeiten nur „gemittelt“. Der Gutachter legte in der schalltechnischen Untersuchung zur Planfeststellung die vorgesehenen Baumaschinen pauschal auf die gesamte Fläche von 56.000 qm des 900 Meter langen Trogbaufeldes um und ermittelte eine Flächenschallleistung von 75 dB(A) pro Quadratmeter. Siehe auch Auszug Anlage 16.2. Seite 16 und 17 zur Planfeststellung PFA 1.1.. Der Gutachter betonte in der  schalltechnischen Untersuchung zur Planfeststellung auf Seite 17 ausdrücklich die obere Abschätzung dieses Vorgehens:

„Für die Betrachtung des Baustellenbetriebs in den Baugruben wird die oben hergeleitete und durch Mess- und Erfahrungswerte bezogene flächenbezogene Schalleistung von 75 dB(A)/qm zugrundegelegt. Dieser Ansatz stellt damit tatsächlich eine obere Abschätzung der Immissionen dar. Die angegebene flächenbezogene Schallleistung überschreitet die im Rahmen der städtebaulichen Planung für zulässig erachtete flächenbezogene Schallleistung von Industriegebieten um 10 dB(A).“

Dieses Vorgehen mag bei einem kleineren Baufeld Standard sein. Bei einem Baufeld in dieser  Größe führte dies dazu, dass das Lärmszenario für die Trogbauarbeiten am Südkopf/ Kernerviertel im Rahmen der Planfeststellung trotz der deutlichen Überschreitung des ansonsten zulässigen Lärmpegels zu niedrig und nicht nach dem Prinzip der oberen Abschätzung berechnet wurde. Das leuchtet auch einem Laien ein. Durchschnittswerte eines so riesigen Baufeldes sind nicht dafür geeignet, maximale Lärmbelastungen abzuschätzen.

Das schalltechnische Detailgutachten vom 11.12.2014 wies hingegen eine flächenbezogene Schallleistung je nach Baufeld von 85 bis 88 dB(A) aus. Gegenüber den in der Planfeststellung ermitteltem Wert von 75 dB(A) ist dies eine Steigerung von mehr als 10 dB(A) und für das menschliche Ohr mehr als eine Verdoppelung des Lärmgeschehens.

Damit wurde das mit den geplanten Bauarbeiten verbundene Konfliktpotential für den Südkopf und die erforderlichen aktiven Schutzmaßnahmen, wie z.B. Schallschutzwände, vor der Baugenehmigung nicht eingeschätzt. Eine realistische Lärmprognose für das Baufeld 25 (s.o.) bzw. die Lärmbelastung für die Anwohner des Kernerviertels wurde im Rahmen der Planfeststellung nicht berechnet.

Auch die schalltechnischen Untersuchungen für den Zwischenangriff Prag vom Dezember 2014 und Februar 2015 beruhten auf viel zu niedrigen Angaben des Gutachters, der von der Baufirma beauftragt wurde. Das langjährige und eigentlich erfahrene Gutachterbüro Fritz GmbH übernahm quasi „blind“ und ohne zu hinterfragen diese niedrigen Lärmwerte für den Tunnelbaubetrieb. Das Netzwerk Killesberg hat jetzt dazu bei der DB Projekt nachgehakt.Die Lärmpegel des neuen Gutachtens vom Juli 2015 liegen mit über 109 dB(A) um mehr als 20 dB(A) über den Zahlen, die das Büro Fritz unhinterfragt vom Vorgutachter übernommen hatte. Damit ist die Baustelle am Zwischenangriff Prag für das menschliche Ohr mehr als vierfach so laut.

3. Es wurden den Lärmberechnungen zu kurze Betriebszeiten der Baumaschinen zugrundegelegt

Die für den Baustellenbetrieb von Stuttgart 21 geltende Rechtsvorschrift, die  AVV-Baulärm, sieht vor, dass bei einem durchschnittlichen täglichen Betrieb der Baumaschinen von 8 bzw. 2,5 Stunden tags /  6 bzw. 2 Stunden nachts sogenannte Zeitkorrekturen um -5 bzw. -10 dB(A)  gemacht werden können. Das bedeutet, dass der Emissionswert einer Baumaschine wegen einer kurzen Betriebszeit um diese Werte reduziert werden kann.

In den Lärmgutachten zu Stuttgart 21 werden auffällig viele Baumaschinen nur bis zu den oben genannten täglichen Maschinenzeiten eingesetzt und damit die Lärmprognose rechnerisch reduziert. So wurden im aktuellen schalltechnischen Gutachten zum PFA 1.5. trotz einer hohen Anzahl von Lkws nur unrealistische Verladungszeiten von 2,5 Stunden tags und 2 Stunden nachts angesetzt. Damit konnte der Gutachter -10 db(A) vom ermittelten Emissionswert abziehen. Das Netzwerk Killesberg hat dazu bei der Bahn nachgehakt.

Auch bei den langjährigen Trogbauarbeiten für den „Tiefbahnhof“ sind die Bauzeiten zu niedrig in die Lärmberechnung für das Kernerviertel eingeflossen. So wird auf den Trogbaustellen des PFA 1.1.  wochentags bis zu 13 Stunden gearbeitet. Dies hatte auch der neue Abschnittsleiter Vertretern des Netzwerks Kernerviertel auf dem Vor-Ort-Termin auf der Baustelle bestätigt. Dennoch wurden vom Gutachter für alle Phasen der Trogbauarbeiten ein Baubetrieb von maximal 8 Stunden angesetzt. Der zeitliche Einsatz der Maschinen, auch die der Baumaschinen zur Bohr- und Rammpfahlsetzung, liegt noch darunter. So wurden je nach Einsatzzeit  -5 bzw. -10 dB(A) von der Schallleistung jeder einzelnen Baumaschine abgezogen. Das Netzwerk Kernerviertel hatte dazu sowohl das EBA als auch die DB Projekt in Schreiben darauf hingewiesen und nochmals per Mail im Juli nachgehakt.

4.  Der im Nachtzeitraum maximal zulässige Spitzenpegel wurde nicht beachtet

Der Tunnelbaubetrieb bei Stuttgart 21 läuft im 7 Tage-24-Stundenbetrieb. Beide Tunnelbaustellen, die Rettungszufahrt Süd und der Zwischenangriff Prag, liegen unterhalb eines am Hang liegenden Wohngebietes. Der Lärm der Tunnelbaustelle überträgt sich damit nur wenig geschützt nach oben bzw. wird am Hang sogar teilweise deutlicher wahrgenommen als in den unteren Bereichen.

Daher hätten die schalltechnischen Gutachten im Rahmen der Planfeststellung für die innerstädtischen Tunnelbaustellen die strengen Auflagen der AVV-Baulärm für den Nachtbetrieb von Baustellen berücksichtigen müssen. Danach reicht nur ein einziger nächtlicher kurzer Spitzenpegel von +20 dB(A) über dem für das Wohngebiet geltenden Richtwert, dass die nächtlichen Bauarbeiten unzulässig sind.

Für die gemischten Wohngebiete Kernerviertel   bzw. Wartberg und Dornbusch am Zwischenangriff Prag ist nur ein Spitzenpegel von bis zu 60 dB(A) (40 +20 dB(A)) zulässig. Die 60 dB(A) entspricht auch dem verfassungsrechtlich zulässigen Schwellenwert für den nächtlichen Baubetrieb. Wegen des Dauerlärms der Tunnelbelüftung ist eine Überschreitung des nächtlichen Spitzenpegels bei nahen Gebäuden bereits bei einer Lkw-Beladung mit steinigem Aushub erreicht. Dies zeigen auch die Gutachten, die die Bahn zur (Güterzug-) Verladung am Zwischenangriff Prag Ende 2014/Anfang 2015 einholte.

Im Vorfeld der Baugenehmigung haben die Fachbehörden u.a. auf die Problematik der Maximalpegel hingewiesen. Dies ist in den Planfeststellungsbescheiden zu Stuttgart 21 nachzulesen, wie z.B. für den PFB 1.5. auf S. 294. Dennoch wurde dieser Einwand von der Bahn und dem Eisenbahn-Bundesamt im Zuge der Planfeststellung nicht beachtet. Notwendige Schallschutzauflagen, z.B. eine Überdachung der Zwischenangriffe, wurden daher damals gar nicht thematisiert.

Die strenge Vorgabe der AVV-Baulärm zu den zulässigen nächtlichen Spitzenpegel wurde von der Bahn und dem Eisenbahn-Bundesamt auch noch weiter in einigen schalltechnischen Untersuchungen ignoriert. So wies die schalltechnische Untersuchung für die Rettungszufahrt Süd vom Februar 2013 bereits für den Dauerbetrieb unzulässige Überschreitungen von mehr als +20 dB(A) für einige Wohnhäuser des Kernerviertels aus. Auch die aktuelle schalltechnische Untersuchung für PFA 1.5. weist bei zwei Wohngebäuden wegen des nächtlichen Lkw-Verkehr diese unzulässigen Überschreitungen auf. Jedoch ohne dass das Gutachterbüro auf die Unzulässigkeit nach der AVV-Baulärm hinweist und Schutzmaßnahmen fordert oder das EBA als Aufsichtsbehörde einschreitet.

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Ergänzung zu Untertürkheim:

Dass diese dargestellten Planungsdefizite der Bahn beim Baulärm von Stuttgart 21 nicht nur bei den innerstädtischen Baustellen für die Anwohner zu großen Belastungen führt, zeigt auch das Beispiel Untertürkheim.

Auch bei diesem Zwischenangriff hatte das Gutachterbüro Fritz GmbH in der Planfeststellung mit falschen Prognosen für die lauteste Bauphase mit den Rammarbeiten hantiert. Wir haben darüber mehrfach berichtet. Auf Rückfrage der Untertürkheimer Bezirksbeirätin Sabine Reichert musste der Gutachter Peter Fritz einräumen, dass er bei den nächtlichen Rammarbeiten den unrealistischen Durchschnittswert aus dem Trogbau des Tiefbahnhofes mit 75 dB(A) (s.o.) zugrundgelegt hatte. Wie für das Kernerviertel eignete sich dieser auf Basis eines Baufeldes von 56.000 qm ermittelte Durchschnittswert nicht für die Beurteilung einer maximalen Lärmbelastung für die Anwohner. Damit wurde in der Planfeststellung wie bei den anderen S21-Baustellen keine Lärmplanung im Sinne einer oberen Abschätzung gemacht.

Daher fiel der Lärmpegel, den er vor Baubeginn in einer schalltechnischen Untersuchung auf Basis eines viel kleineren Baufeldes mit einer Schallleistung von über 122 dB(A)  in Untertürkheim errechnet hatte, gravierend höher aus. Dass dieser extrem hohe Emissionswert im Nachtzeitraum nach der AVV-Baulärm unzulässige Lärmpegel bei den umliegenden Wohngebäude verursachen würde, zeigte die Untersuchung. Dennoch schritt auch hier das EBA als Aufsichtsbehörde nicht ein. Wenn diese Bauarbeiten im Nachtzeitraum unabdingbar notwendig waren, hätte die Behörde eine vorübergehende Hotelunterbringung anordnen müssen.

Von daher mussten auch in Untertürkheim die Baustellen-Anwohner immer wieder die leidvolle Erfahrung machen, dass die Lärmprognose aus der Planfeststellung und der – im Detailgutachten erst kurz vor Baubeginn realistischer prognostizierte – Baustellenbetrieb wenig miteinander zu tun haben. Und vor allem dass die dramatischen Richtwertüberschreitungen keine Konsequenzen haben: Weder das aufsichtführende Eisenbahn-Bundesamt noch das ebenfalls zuständige Umweltamt der Stadt Stuttgart schritten ein. Auch die Lärmbeauftragte der Landesregierung, Frau Dr. Gisela Splett, MdL, hielt es bislang nicht für nötig, zu der Problematik Stellung zu nehmen. Ein Schreiben des Infobündnisses Zukunft Schiene – Obere Neckarvororte vom Januar 2015 blieb bis heute unbeantwortet.

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