Die Bahn hat letzte Woche in einer Pressekonferenz angekündigt, dass sie im Frühsommer mit den ersten Tiefbauarbeiten starten wird. Der Lärm dieser langjährigen Bauarbeiten rund um den Hauptbahnhof wird nicht nur die Anwohner im Kernerviertel, sondern auch die umliegenden Geschäfte, Hotels, Büros und Kultureinrichtungen, wie die Staatsgalerie, das Schauspielhaus oder das Planetarium treffen.
Nach den Auflagen der Planfeststellung muss die Bahn vor Baubeginn eine schalltech-nische Untersuchung dem Eisenbahn-Bundesamt vorlegen, in der sämtliche parallel stattfindenden Bauarbeiten an den Baugruben, den Baubetriebsflächen und den Baustraßen unabhängig von der Zuweisung zu einem bestimmten Abschnitt aktuell bewertet werden. Die Schallgutachten haben über die Wirksamkeit von Schallminder-ungsmaßnahmen Auskünfte zu geben. Ebenso müssen vorher geeignete Messpunkte festgelegt werden. Die Einsicht in zwei Lärmgutachten und die Recherchen des Netzwerks zeigen jedoch aktuell ein völlig anderes Bild:
- Die Gutachten zum Kanal- und Trogbau sowie zum Tunnelbaubetrieb an der Rettungs-zufahrt spiegeln nicht das gesamte Baugeschehen wieder und eignen sich daher weder zur Lärmprognose der Umgebung noch zur Einschätzung der Konfiktpotentiale. Das Eisenbahnbundesamt als Aufsichtsbehörde hält es offensichtlich nicht für erforderlich, diese im Hinblick auf die Auflagen der Planfeststellung zu prüfen. Erst auf Nachhaken des Netzwerks Kernerviertel nach einer umfassenden aktuellen Lärmplanung für alle betroffenen Wohngebiete forderte das EBA die Bahn wegen der isolierten Lärmpro-gnosen für den Kanal- und Trogbau zur Stellungnahme auf.
- Aktive Schutzmaßnahmen bei den prognostizierten hohen Pegelwerten von über 100 bis 120 dB(A) werden vom Gutachter pauschal unter Hinweis auf die besonderen Ört- lichkeiten ausgeschlossen. Selbst in der Planfeststellung verankerte Lärmschutzauf-lagen, wie die Lärmschutzwand an der Rettungszufahrt entlang der Neckarrealschule oder die Lärmbegrenzungen für stationäre Anlagen am Südkopf auf maximal 91 dB(A) (-> Förder- band Prognosewerte über 100 dB(A)!) werden nicht beachtet.
- Die Lärmprognosen für einzelne Gebäude beschränken sich auf ein eingeschränktes Gebiet südlich der Sängerstaffel. Weitere Straßenzüge entlang des Hangs, die unmittel- bar vom Baulärm betroffen sind, werden dabei nicht berücksichtigt.
- Der Gutachter, der seit über 12 Jahren diese schalltechnischen Untersuchungen und Lärmgutachten verantwortet, soll gleichzeitig als unabhängiger Immissionsschutz-beauftragter bei Konfliktfällen fungieren.
- Die Gutachten für den passiven Schallschutz (Schallschutzfenster), die farbigen Schall-ausbreitungskarten und die Liste der Messpunkte hat die Bahn bislang dem EBA nicht vorgelegt, obwohl die Entscheidung über die aktiven und passiven Schallschutzmaß-nahmen nach den Planfeststellungsbeschlüssen im Verantwortungsbereich des EBA liegt.
- Die Bahn ignoriert trotz wiederholter Nachfragen bis hoch zum Co-Geschäftsführer der Stuttgart-Ulm GmbH die Anträge des Netzwerks auf Einsicht in die o.g. Unterlagen.
Daher hat sich das Netzwerk Kernerviertel an den Bezirksbeirat Mitte gewandt und zu Beginn der Sitzung am 17.März 2014 um Unterstützung für einen Gesprächstermin beim Oberbürgermeister gebeten. Die Stadt Stuttgart, so eine der Forderungen des Netzwerks, soll die Lärmgutachten der Bahn überprüfen und regelmäßige Messungen rund um die Baustellen vornehmen. Der Bezirksbeirat Mitte hat diesem Antrag ohne Gegenstimmen entsprochen. Die Bezirksvorsteherin Veronika Kienzle will das Handout des Netzwerks mit den detaillierten Rechercheinformationen für die Bezirksbeiräte mit einem Begleitschreiben an den Oberbürgermeister und den Baubürgermeister weiterleiten. Auch die Stadträtin Clarissa Seitz erklärte in der Sitzung die Unterstützung von Seiten der Grünen-Fraktion, die dazu noch eine Anfrage im Gemeindeart stellen wird.
Dass die Überprüfung und Kontrolle durch das Umweltamt der Stadt Stuttgart auch für alle anderen Stadtteile, die vom Baulärm bei Stuttgart 21 betroffen sein werden, dringend erforderlich ist, zeigen auch die eklatanten Lärmüberschreitungen in Untertürkheim, auf die das Infobündnis Zukunft Schiene in einer Pressemitteilung und in einer Petition an den Deutschen Bundestag vor kurzem hingewiesen hatte.
Update 19.März: Die Stuttgarter Nachrichten berichteten heute (hier), dass sich der Bezirksbeirat Mitte der Forderung des Netzwerks nach einer Überprüfung der Lärmgutachten angeschlossen hat. Das Kommunikationsbüro der Bahn beteuert gegenüber der StN, dass keine Lärmkonflikte mit den Anwohner des Kernerviertels durch die Bauarbeiten zu erwarten seien.
Angesichts der in den Gutachten sehr hohen prognostizierten Lärmwerte von bis zu 120 dB(A) für die jahrelangen Baumaßnahmen am Bahnhofstrog kann man hier nur noch von einer gezielten Desinformation der Öffentlichkeit sprechen. Selbstverständlich über- schreiten auch die auf Basis der oben beschreibenen Defizite ermittelten Lärmwerte die von der AVV-Baulärm vorgegebenen Lärmgrenzen und werden auch die Anwohner des nahgelegenen Wohngebiets entlang des Ameisenberges beeinträchtigen. Nicht von ungefähr sind bereits in der Planfeststellung des PFA 1.2. zahlreiche Schutzmaßnahmen bis hin zur vorübergehenden Umsiedelung mitaufgenommen. Auszüge aus der Planfest-stellung zum Thema Lärm finden Sie ab Seite 5 des Handouts für die Bezirksbeiräte.
Update 20.März: Das Netzwerk Kernerviertel hat sich in einem Brief an den OB gewandt und um einen Gesprächstermin gebeten.