In Untertürkheim laufen schon seit August letzten Jahres immer wieder Bauarbeiten für Stuttgart 21. Bereits in der ersten Nacht stürmten über den unerträglichen Lärm erzürnte Anwohner die Baustelle und forderten eine sofortige Einstellung. Die Bahn und die Polizei argumentierten damals, dass alle Lärmwerte planfestgestellt seien.
Dies war jedoch nicht der Fall. Darauf weist ein neuer Beitrag des Netzwerk Wangen / Untertürkheim hin. Er zeigt, wie deutlich die in der Planfeststellung geplanten Lärm- werte an der Rettungszufahrt Benzstraße überschritten wurden. Nach Einschätzung des Netzwerks deutet dies darauf hin, dass bei der Planfeststellung bewusst mit niedrigen Lärmpegel operiert wurde, um die Baugenehmigung nicht zugefährden. Damit ist Untertürkheim auch der Praxistest für alle anderen vom Baulärm bei Stuttgart 21 betroffenen Stadtteile, wie das Kernerviertel, auf die jetzt die lauten Rammarbeiten für den Tiefbahnhof noch zukommen werden. Lesen Sie hier den Beitrag des Netzwerks Untertürkheim:
Bei allen seither erfolgten Baumaßnahmen sind an der Rettungszufahrt Benzstraße Lärmpegel gemessen worden, die offensichtlich nicht im Geringsten von den die Planfeststellungsverfahren begleitenden Lärmprognosen prognostiziert wurden.
Das Eisenbahn-Bundesamt vertrat damals im Planfeststellungsbeschkuss vom Mai 2007 die Auffassung: „Die schlechte Prognostizierbarkeit der Schallbelastung muss daher hingenommen und kann nur dadurch ausgeglichen werden, dass zu Gunsten der Betrof- fenen eine obere Abschätzung der Emissionen vorgenommen wird, d.h. jeweils sehr hohe Ausgangswerte den Berechnungen zu Grunde gelegt werden.“ Man war bei der Plan- feststellung von „… Überschreitungen der einschlägigen Richtwerte für den Nachtzeit- raum …“ ausgegangen, „… die teilweise bis zu 7 dB(A) betragen“.
Schalltechnisches Gutachten zur Planfeststellung
Tatsächlich hatte das an der Planung beteiligte Büro Fritz Beratende Ingenieure VBI GmbH in seiner schalltechnischen Untersuchung vom 14.05.2004 (Anlage 16.2 der Antragsunterlagen) keine höheren nächtlichen Richtwertüberschreitungen um mehr als 7 db(A) prognostiziert. Für den Tagzeitraum wurden gar Unterschreitungen der Richt- werte bzw. Überschreitungen von weniger als 5 dB(A) prognostiziert. Auf Basis dieser Prognose erließ das Eisenbahn-Bundesamt abweichend von der AVV Baulärm (Ziffer 4.1) in der Nebenbestimmung Nummer A. VII. 2.3.7 eine „Zumutbarkeitsklausel“, die angesichts der prognostizierten, vergleichsweise geringen Überschreitungen der nächt-lichen Richtwerte um maximal 7 dB(A) möglicherweise tolerierbar erschien.
Schalltechnisches Detailgutachten vor Baubeginn
Wenige Wochen vor Baubeginn kam derselbe Sachverständige in seinem Detailgutachten vom 19.07.2013 allerdings abweichend von der für die Planfeststellung maßgeblichen Prognose zu folgendem Ergebnis: „In Bauphase 1 ist mit den höchsten Richtwertüber-schreitungen in Untertürkheim Süd zu rechnen, da hier (…) Rammarbeiten durchgeführt werden. Es ist mit Richtwertüberschreitungen am Tag bzw. in der Nacht von bis zu 12,4 / 26,8 dB(A) am Immissionsort IP 7 ,Benzstraße 35‘ zu rechnen.“
Es geht hier nicht mehr um Überschreitungen von 5 oder 7 dB(A), hier geht es um Überschreitungen zwischen 12 und 16 dB(A) tagsüber und um Überschreitungen zwischen 23 und 32 dB(A) nachts!
Realität: Lärmimmissionsbeauftragter nach den ersten Messungen
Selbst dem „unabhängigen“ Sachverständigen, der für das verharmlosende Schallgut- achten im Planfeststellungsverfahren verantwortlich zeichnet, scheinen Richtwertüber- schreitungen in der ermittelten Größenordnung bedenklich zu sein. Am 17.12.2013 schreibt er an die Bahn, „…dass ein Beurteilungspegel (…) von 101 dB(A) ein uneinge-schränkt inakzeptabler Wert ist. Soweit es tatsächlich zutreffend ist (…), müssen die maßgeblichen Ursachen unverzüglich eingestellt werden, da ansonsten die Gefahr besteht, dass bei der ersten nachhaltig und substantiiert vorgetragenen Nachbarschafts-beschwerde der Baustelle eingestellt wird.“
Planfeststellung und Realität
Offensichtlich wurden von interessierter Seite die während der Bauzeit zu erwartenden Lärmbeeinträchtigungen verharmlost, um die Planfeststellung nicht zu gefährden. Dies widerspricht jedoch dem Abwägungsgedanken in der Planfeststellung fundamental: Konflikte mit schutzwürdigen Interessen sollen konkretisiert und ausgeräumt werden.
Die Planfeststellungsbehörde war zum Zeitpunkt der Planfeststellung der Ansicht, auf diese Konkretisierung verzichten zu können, weil „… die vorgelegte Prognose ohnehin nur als Machbarkeitsstudie und nicht als Grundlage für eine abschließende Beurteilung der bauzeitlichen Schallbelastungen dienen soll.“ Es bestünde nicht die Gefahr, dass Konflikte übersehen oder unterbewertet würden.
Einwände und Hinweise auf Ungereimtheiten durch die Träger öffentlicher Belange wurden u. a. im Planfeststellungsbeschluss 1.6a mit folgender Begründung zur Seite gewischt: „Die im Rahmen der Ausführungsplanung zu erstellenden Detailgutachten sind unter Beteiligung des zugesagten Immissionsschutzbeauftragten zu erstellen, wobei auch die von den Fachbehörden geäußerten Bedenken zu berücksichtigen sind.“ und weiter „Die Untersuchung zeigt aber auch, dass sich die Problemlagen im Ergebnis lösen lassen und eine Konfliktbewältigung trotz der starken Belastungen durch den Baustellenlärm möglich ist. Angesichts der prognostizierten Konflikte ist es erforderlich, bereits im Planfeststellungsverfahren notwendige Vorkehrungen zu treffen (siehe verfügenden Teil A des Planfeststellungsbeschlusses). Hierdurch kann insbesondere gewährleistet werden, dass zur Vermeidung von Immissionskonflikten alle erforderlichen und möglichen Schallschutzmaßnahmen vor Baubeginn umgesetzt werden, auf unvorhergesehene Konfliktlagen auch nach Baubeginn reagiert werden kann und bei nicht vermeidbaren, unzumutbaren Beeinträchtigungen eine angemessene Entschädigung an die Betroffenen geleistet wird.“
Durch solche Formulierungen im Planfeststellungsbeschluss wurden damals im Rahmen der Planfeststellung betroffenen Anwohner/innen von vorne herein die Möglichkeit genommen, Rechtsmittel einzulegen.