Neues Urteil des Verwaltungsgerichtshofs BW: Anwohner können bei unzumutbarem Baulärm Baustopp erzwingen

Wer bei der letzten Informationsveranstaltung der Netzwerke im Rathaus den Vortrag des Rechtsanwalts Bernhard Ludwig zum Immissionschutz bei Stuttgart 21 (hier) aufmerksam mitverfolgt hat, ist eigentlich schon darüber informiert. Bernhard Ludwig hatte für eine Klägerin vor dem Verwaltungsgerichtshof BW einen beachtlichen Erfolg in Sachen Immissionsschutz für Anwohner bei Baustellen errungen. Der Beschluss des VGH vom 15.Februar 2015 (10 S 2471/14)  ist nun rechtskräftig und  im Internet abrufbar. Der VGH veröffentlichte am letzen Freitag dazu eine Pressemitteilung, über die der SWR, die Stuttgarter Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten berichteten.

Nach diesem Beschluss des VGH müssen staatliche Behörden Anwohner vor Baulärm bereits bei Überschreitung der Richtwerte der AVV-Baulärm um + 5 dB(A) schützen, auch wenn der Lärm unvermeidbar ist. Notfalls müssen die Behörden einen Baustopp erlassen. Betroffene Anwohner haben auch einen Anspruch auf Überwachungsmaßnahmen bei begründetem Verdacht auf erhöhte Lärmpegel. Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass es bei unvermeidbarem Baulärm üblich ist, den betroffenen Anwohnern für die Zeit unzumutbarer Lärmbelastungen einen angemessenen Ersatzwohnraum anzubieten.

Bernhard Ludwig hatte eine vom Baulärm betroffene Anwohnerin in Böblingen vertreten, in deren Nachbarschaft fünf große Mehrfamilienhäuser auf dem ehemaligen Flugfeld errichtet werden. Der Baulärm war unerträglich. Er überschritt über einen längeren Zeitraum die Richtwerte der AVV-Baulärm sowie teilweise auch die verfassungsrechtliche Zumutbarkeitsschwelle bei Dauerlärm von 70 dB(A) tags und 60 dB(A) nachts, oberhalb derer der Staat regelmäßig zur Abwehr einer Gesundheitsgefährdung nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sowie eines unzumutbaren Eingriffs in das Eigentum nach Art. 14 Abs. 1 GG verpflichtet ist.

Der SWR (hier) berichtete am letzten Freitag: „Das Landratsamt Böblingen ordnete deshalb Lärmschutzmaßnahmen an und drohte mit Strafen von 1.000 Euro, wenn weiterhin zu laut gebaut wird. Die Baufirma ignorierte die Anweisungen und zahlte lieber die geringe Strafe. Dagegen beschwerte sich die Anwohnerin, doch das Landratsamt reagierte nicht und auch das Verwaltungsgericht Stuttgart meinte, die Behörde hätte genug getan. Das sieht der Verwaltungsgerichtshof in Mannheim anders. Das Landratsamt Böblingen hätte härter durchgreifen müssen, urteilten die Richter. Der Bauherr habe hartnäckig die Lärmschutzanweisungen der Behörde ignoriert. Deshalb hätte das Landratsamt einschreiten und notfalls einen Baustopp erlassen müssen.

Wir haben auf unserer Webseite in zahlreichen Beiträgen über den unzureichenden Lärmschutz bei Stuttgart 21 und die Untätigkeit des Eisenbahn-Bundesamtes als Aufsichtsbehörde berichtet. Die Bahn hatte sowohl die Auflagen aus der Planfeststellung nach umfassenden schalltechnischen Detailgutachten als auch die Vorgaben der AVV-Baulärm nach vorrangigem aktivem Schallschutz bei prognostizierten Richtwertüberschreitungen nur unzureichend umgesetzt. Das Eisenbahn-Bundesamt hatte weder die Gutachten inhaltlich auf die zugrundegelegten Bauszenarien geprüft noch bei prognostizierten Richtwertüberschreitungen gegenüber der Bahn erfolgreich auf vorrangigen aktiven Lärmschutz bestanden. Massive unzulässige nächtliche Pegelüberschreitungen bei den Rammarbeiten in Untertürkheim wurden ohne Schutzmaßnahmen vom EBA toleriert. Die Netzwerke 21 hatten sich daraufhin in mehreren Schreiben an die Bahn, das Eisenbahn-Bundesamt, den Oberbürgermeister der Stadt Stuttgart, Stadträte, den Verkehrsminister des Landes BW und Landtagsabgeordnete gewandt. Ein Rechtsanwalt wurde eingeschaltet. Das Infobündnis Zukunft Schiene hatte auch eine Petition an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages gerichtet.

Die Bahn räumt jetzt für das Kernerviertel und den Wartberg ein, dass ihre Lärmprognosen in den schalltechnischen Detailgutachten unzureichend sind und sie jetzt entgegen den ursprünglichen Einschätzungen ihres Gutachters und Immissionsschutzbeauftragten verstärkt in aktiven Lärmschutz investiert. Dies ist sicherlich auch auf diesen Beschluss des VGH BW zurückzuführen. Die vor kurzem wegen der hohen prognostizierten Pegelwerte angekündigten aktiven Lärmschutzmaßnahmen sind aus Sicht der betroffenen Anwohner zu begrüßen. Doch man darf nicht vergessen, dass die Bahn hier nur die geltende Rechtslage bzw. die Auflagen aus der Baugenehmigung umsetzt.

Ein von Anwohnern wegen unzureichenden Schutzmaßnahmen erwirkter Baustopp würde der Bahn langfristig deutlich mehr kosten als die jetzt für das Kernerviertel und den Wartberg angekündigten Millionen-Investitionen in Lärmschutzwände. Laut Spiegel schätzte die Konzernspitze der Bahn im Zuge der Schlichtung 2010, dass ein Einfrieren der Bauarbeiten von Stuttgart 21 mit rund einer halben Million Euro pro Arbeitstag zu Buche schlagen würde. In der Süddeutschen war von 10 bis 15 Millionen Euro pro Monat die Rede. Selbst wenn die Größenordnung für einen Tag Baustopp, der nur einen Teilbereich der Großbaustelle beträfe, deutlich niedriger ausfallen würde, es wäre ein nicht geringer wirtschaftlicher Schaden für die Bahn. Zumal die Bahn bei ihren Zeitplänen hinterher hinkt.

Auch wäre bei einem Klageverfahren nicht ausgeschlossen, dass der noch bei der Planfeststellung eingeräumte Bonus der Bahn bei Stuttgart 21 (passiver Schallschutz erst bei einer zwei monatigen Überschreitung von + 5 dB(A) über den Richtwerten der AVV-Baulärm) wegen der neuen Rechtssprechung des Bundesverwaltungsgerichtes gekippt werden würde. Damit wäre ein deutlich größerer Kreis von Betroffenen in Stuttgart beim passiven Schallschutz anspruchsberechtigt und auf die Bahn würden weitere Kosten zukommen.

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