Letzten Mittwoch fand die gemeinsame Informationsveranstaltung der Netzwerke und der Grünen-Fraktion des Gemeinderates im Rathaus statt. Als Redner sprachen: Nina Homoth (Regierungspräsidium Stuttgart) über die vorzeitige Besitzeinweisung, Enteignung und Entschädigung, Frank Schweizer (Netzwerk Kernerviertel) für den verhinderten Prof. Dr. Uwe Dreiss zu den kritischen Punkten der von der Bahn angebotenen Gestattungs- bzw. Bauerlaubnisverträge und der Rechtsanwalt Bernhard Ludwig über rechtliche Aspekte beim Immissionsschutz insbesondere bei Baulärm. Auch Vertreter der Bahn verfolgten interessiert die Veranstaltung, darunter auch Peter Sturm, der Geschäftsführer der DB Projekt Stuttgart-Ulm GmbH und Dr. Florian Bitzer, Abschnittsleiter der Technischen Fachdienste. Fotos der Veranstaltung von Wolfgang Rüter mit den Folien finden Sie hier. Die Stuttgarter Zeitung berichtete in dem Beitrag „Hausbesitzer kritisieren Angebote der Bahn bei S 21″ . Die Stuttgarter Nachrichten im Beitrag „Allgemeininteresse hat Vorrang„.
Da die Veranstaltung dieses Mal nicht aufgezeichnet wurde, möchten wir noch kurz über die wichtigsten Punkte der Redebeiträge informieren:
Die Begrüßung und Moderation des Abends übernahm die Grünen-Stadträtin Clarissa Seitz. Sie kritisierte die Stadt Stuttgart und das Land Baden-Württemberg, die sich bislang bei der Unterstützung ihrer von Stuttgart 21 betroffenen Bürger „nicht mit Ruhm bekleckert hätten„. Auch das Eisenbahn-Bundesamt würde seiner Aufsichtspflicht nicht gerecht werden. Statt dessen müssten in den Netzwerken engagierte Bürger in ihrer Freizeit Gutachten zu Lärm und Erschütterung lesen. Auch bei den Gestattungsverträgen hätten die Stadt und das Land im Interesse ihrer Bürger im Falle von eintretenden Bauschäden eine echte Beweislastumkehr für Bauschäden und keine Einschränkung für die Bebaubarkeit der Grundstücke einsetzen können. Clarissa Seitz fordert, dass die Stadt und das Land bei Stuttgart 21 nicht nur als Projektpartner, sondern auch als Anwalt ihrer Bürger auftreten sollen.
Auch Rudi Röder vom Netzwerk Killesberg und Umgebung e.V., der im Namen der Netzwerke das Grußwort sprach, wies auf die wichtige Arbeit der Netzwerke hin. Erst auf Druck der Netzwerke, die das EBA und die Bahn auf geschönte Berechnungen bei Schallschutz aufmerksam gemacht und verstärkt aktiven Schallschutz gefordert hätten, sei jetzt die Bewegung in die Sache gekommen. Er zählte zentrale Forderungen der Netzwerke auf, wie die Bestellung eines von der Bahn unabhängigen Immissionsschutzbeauftragten, den Baurisiken angemessene Haftungsregelungen, Emmissionsberechnungen auf Basis der tatsächlich geplanten Baugeschehens, widerspruchslose Information über die zu erwartenden Erschütterungen bei Rammarbeiten und einen Dialog der Betroffenen auf Augenhöhe mit der Bahn. So sei es beispielsweise wichtig, dass die Eigentümer über die durch den Tunnelbau verursachten Setzungen informiert werden. Aktuell habe er den Hinweis erhalten, dass sich ein Haus an der Frühlingshalde um 18 Millimeter gesetzt hätte. Allerdings hatte Prof. Wittke als Sachverständige der Bahn für den Tunnelbau nahezu alle prognostizierten Setzungen in dieser Größenordnung als unproblematisch dargestellt. Ob diese Setzung tatsächlich keine Auswirkungen auf die Gebäudesubstanz hat, würde sich noch zeigen.
Nina Homoth, Regierungsdirektorin und zuständige Referatsleiterin für Recht und Planfeststellung beim Regierungspräsidium Stuttgart, bedankte sich für die Einladung und damit die Möglichkeit eine größere Anzahl der durch Stuttgart 21 betroffenen Eigentümern über die Rechtslage zur „Findung einer Verhandlungsposition“ aufklären zu können. In ihrem Vortrag ging sie allerdings weniger auf das eigentliche Verfahren der vorzeitigen Besitzeinweisung ein, sondern auf die rechtlichen Grundlagen, wie Artikel 14 des Grundgesetzes, die Planfeststellung bei Stuttgart 21 sowie die Regelungen des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG). Sie verwies auf die enteignungsrechtliche Vorwirkung der bestandskräftigen Planfeststellungsbeschlüsse bei Stuttgart 21 und die rechtlichen Voraussetzungen nach dem AEG für eine vorzeitigen Besitzeinweisung. Die Folien ihres Vortrages finden Sie hier.
Die vorzeitige Besitzeinweisung sei rechtlich zulässig, wenn der Beginn von Bauarbeiten geboten und der Eigentümer sich nicht zur Unterfahrung seines Grundstückes bereit erklären würde. In einer mündlichen Verhandlung, die einer vorzeitigen Besitzeinweisung vorangeht, hätte das Regierungspräsidium die Aufgabe zwischen den beiden Seiten zu vermitteln. Die Bahn müsse im Vorfeld für das Unterfahrungsrecht ein angemessenes Angebot geben. Auf ihre Aussage, dass dabei der Verkehrswert eines Grundstückes heranzuziehen sei, kam aus dem Saal Protest. Denn die bisherigen schriftlichen Angebote der Bahn basieren auf dem durchschnittlichen Bodenrichtwert eines Gebietes und berücksichtigen nicht die Besonderheiten eines Grundstückes wie Bebaubarkeit und Lage. Nina Homoth wies in ihrem Vortrag daraufhin, dass es beim Regierungspräsidium eine Enteignungskommission gebe, die bei besonderen Abweichungen die individuelle Bewertung des Grundstücks vornehme. Offen blieb, wie diese Kommission besetzt ist und inweit diese sich vom unabhängigen Gutachterausschuss der Stadt, der gegen Rechnung eine sehr zuverlässige Werteinschätzung des Grundstücks erstellen kann, unterscheidet. Ungeklärt blieb auch, warum der Eintrag der Bahn als „Dienstbarkeitsberechtigte“ im Grundbuch an erster Stelle erfolgen soll. Eigentümer meldeten Zweifel an, ob hier ihre Banken sich damit einverstanden erklären.
Frank Schweizer, Initiator der Netzwerke und Sprecher des Netzwerks Kernerviertel wies in seinem Vortrag daraufhin, dass die Bahn bereits seit Jahren die Unterfahrungsrechte von den Eigentümern hätte einholen können. Die Angebote kämen jetzt nur kurz vor Baubeginn. Die wegen der Kurzfristigkeit angebotenen Gestattungserlaubnisse hätten ihre rechtlichen Tücken, insbesondere wenn nicht geklärt sei, bis wann die Entschädigung von der Bahn geleistet werden müsse. Er empfahl auch die von der Bahn angebotenen Gestattungsverträge nicht zu unterschreiben, sondern zu verhandeln. So sei es beispielsweise im Hinblick auf die Haftungsfrage entscheidend, was unter einer „verkehrsüblichen Sorgfalt“ zu verstehen sei. Das heißt, ob der Bau der Tunnel nach dem „neuesten Stand der Technik“ oder wie in den Muster-Gestattungsverträgen formuliert, nur nach den „anerkannten Regeln der Technik“ geboten sei. In den Verträgen müsse, so Schweizer, auch eine echte Beweislastumkehr vereinbart werden. Die Eigentümer dürften nicht das Risiko des Tunnelbaus in geologisch schwierigen Gebiet tragen. Auch nach dem eigentlichen Tunnelvortrieb könnten noch Jahre später Schäden eintreten. Nicht hinzunehmen sei auch, dass man einen Passus unterschreiben müsse, der eine Zustimmung der Bahn bei baulichen Veränderungen vorsieht. Die Netzwerke fordern, die Bahn solle ihre Tunnel so bauen, dass das darüber liegende Grundstück in seiner Bebaubarkeit nicht eingeschränkt sei. Die Folien des von Prof. Dr. Uwe Dreiss entworfenen Vortrages finden sie hier.
Mit Blick auf den Bahnvorstand schlug Frank Schweizer einen Musterprozess über die Höhe der Entschädigungen vor, die sich bislang nach dem von der Bahn entwickelten Verfahren auf der Basis der Bodenrichtwerte berechnet. Der Geschäftsführer der DB Projekt Peter Sturm ging darauf ein und bot an, dass die Netzwerke ihm einen geeigneten Eigentümer vorschlagen könnten. Auch die Bahn hätte ein hohes Interesse an einer Klärung dieser Frage. Nach Aussagen von Peter Sturm sind vom Tunnelbau bei Stuttgart 21 rund 3.400 Flurstücke betoffen. Von rund 1.100 Eigentümern hat die Bahn bereits die Unterfahrungsrechte eingeholt, davon 97 % über eine vertragliche Regelung. Nur bei 3 % der Eigentümer sei eine vorzeitigen Besitzeinweisung erfolgt. Von 1.900 Eigentümer müssen noch die Unterfahrungsrechte eingeholt werden. Die Verträge würden einen Passus vorsehen, nachdem die Eigentümer bei einer rechtlichen Klärung nachträglich besser gestellt werden.
Der Rechtsanwalt Berhard Ludwig stellte zu Beginn seines Vortrages die rechtlichen Grundlagen im Immissionsrecht, einschließlich der Auflagen aus den vom Eisenbahn-Bundesamt erlassenen Nebenbestimmungen der Planfeststellungsbeschlüssen zu Stuttgart 21 vor. Die Planfeststellungsbeschlüsse verweisen auf die AVV-Baulärm, die vorrangig aktiven Schallschutz bei Überschreitung der Richtwerte vorsieht. Bei einer mehr als zwei monatigen Überschreitung um + 5 dB(A) besteht das Recht auf passiven Schallschutz und ggf. Entschädigung. Die Folien seines Vortrages können Sie hier abrufen.
Die verfassungsrechtliche Zumutsbarkeitsschwelle bei Dauerlärm liegt bei 70 dB(A) tags und 60 dB(A) nachts. Diese Schwelle dürfte auch bei einem Lärmpegel aus Baulärm und Fremdgeräuschen gelten. In diesen Fällen muss der Staat gegen Lärm vorgehen. Nach der aktuellen Lärmforschung besteht jedoch bereits bei 60-65 dB(A) Gesundheitsgefahr. Bei Pegelwerten von 80-85 dB(A) drohen Hörschäden.
In seinem Vortrag wies Bernhard Ludwig am Beispiel des Kernerviertels daraufhin, dass die Umsetzung der Auflagen aus dem Planfeststellungsbeschlüssen mangelhaft sei. So hätte beispielsweise die Bahn mit den ersten Bauarbeiten im Herbst 2013 begonnen. Das nach der Planfeststellung geforderte anschnittsübergreifende schalltechnische Detailgutachten wurde jedoch erst im Dezember 2014 erstellt und der passive Schallschutz nur unzureichend umgesetzt. So sind beispielsweise bis heute keine Schallschutzfenster beim Wohngebäude Willy-Brandt-Straße 18 eingebaut, das unmittelbar von den lauten Trog- und SSB-Bauarbeiten betroffen ist und dessen Eigentümer das Land Baden-Württemberg sei. Für den unmittelbaren Umkreis dieses Gebäude sind für die Hauptbaumaßnahmen Spitzenpegel von 80 dB(A) prognostiziert. Bereits in den Vorbereitungsarbeiten wurden in der unmittelbaren Nachbarschaft (Dach Sängerstraße 6) bis zu 74,3 dB(A) gemessen.
Die DB Netz habe auch passiven Schallschutz auf Basis überholter Detailgutachten angeboten und erst auf seine anwaltliche Intervention korrigiert. Auch wurde erst auf seine Intervention eine Klausel in dem angebotenen Erstattungsvertrag für den passiven Schallschutz geändert, die den Ausschluss aller weiteren Rechte vorsah.
Ebenfalls sei die Vollzugskontrolle bzw. die Wahrnehmung der Aufsichtspflicht durch das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) völlig unzureichend. Dabei wäre nach dem AEG das EBA verpflichtet, im Einzelfall Anordnungen bzw. eine Bauuntersagung bei Gesundheitsgefährung zu treffen. Bernhard Ludwig empfahl daher den vom Baulärm durch Stuttgart 21 Betroffenen sich bei Beschwerden neben der Bauinfo auch unbedingt schriftlich an das Eisenbahn-Bundesamt (Eisenbahn-Bundesamt Außenstelle Karlsruhe / Stuttgart, Olgastraße 13, 70182 Stuttgart oder E-Mail: poststelle@eba.bund.de) zu wenden.
Auf diesen Vortrag wandte der im Publikum anwesende Abschnittsleiter der Technischen Fachdienste bei Stuttgart 21 Dr. Florian Bitzer ein, dass die Bahn jetzt aktive Schallschutzmaßnahmen im Kernerviertel umsetzen würde. Über diese Schutzmaßnahmen werden noch Maßnahmenblätter erstellt, die wie die Gutachten im Internet veröffentlicht werden. Die Bahn hätte auch ein sehr hohes Interesse, dass die Lärmprognosen stimmen würden. Ansonsten würde der Bahn dies spätestens bei den laufenden Messungen „krachend auf die Füße fallen„. So würde jetzt auch im Hinblick auf die geplanten aktiven Schallschutzmaßnahmen und die fortgeschriebene Ausführungsplanung ein neues Detailgutachten für das Kernerviertel erstellt werden.
Update 18.07.2015: Die Stuttgarter Zeitung berichtet in ihrer heutigen Ausgabe (hier), dass die Bahn den auf der Veranstaltung genannten Senkungswert von 18 Millimeter bei einem Gebäude in der Frühlingshalde dementiert. Es seien bislang maximale Senkungen in der Größenordnung von 13,5 Millimeter gemessen worden. „Die Bahn“, so die StZ, “ sieht sich in diesem Fall noch ausreichend von den Grenzwerten entfernt. „Bei uns ist auch keine Schadensmeldung aus diesem Bereich eingegangen“, so der Sprecher“.
Update: 21.07.2015: Martin Steeb von der Fraktionsgeschäftsstelle der Grünen hat bei Frau Homoth wegen der Enteignungskommission nachgehakt. Sie hat ihm schriftlich darauf folgendes geantwortet:
„Ich denke, Sie spielen an auf die Frage nach dem Verkehrswert des Grundstücks (oder des sonstigen Gegenstands der Enteignung), anhand dessen sich die Entschädigung für den durch die Enteignung eintretenden Rechtsverlust bemisst (§ 9 Abs. 1 S. 1 LEntG)?
Hierbei befinden wir uns, wohlgemerkt, im Enteignungs- nicht im Besitzeinweisungs- verfahren (im letzteren wird in der Regel eine Verzinsung der – späteren – Enteignungsentschädigung zugesprochen). Im Enteignungsverfahren also ist es Aufgabe der Enteignungskommission, sofern sie dem Enteignungsantrag stattgibt, über den jeweiligen Verkehrswert des enteigneten Rechts zu befinden (also bei der Eintragung einer Dienstbarkeit im Sinne eines Wegerechts – Tunnel! – die Verkehrswertminderung in Bezug auf das Grundstück, an dem das Eigentum ja erhalten bleibt). In Baden-Württemberg verhandelt und entscheidet diese Kommission über die Enteignung und/oder die Besitzeinweisung: den Vorsitz führt ein Jurist des Referats 24 „Recht, Planfeststellung“ des Regierungspräsidiums, weitere Mitglieder sind zwei ehrenamtliche Beisitzer, die über eine gewisse Sachkunde bei der Beurteilung von Grundstücksverkehrswerten verfügen.“