Die Bauarbeiten zur Herstellung des 900 Meter langen und bis zu 80 Meter breiten Tiefbahnhofstrogs, für den mehr als 4.000 Pfähle in den Untergrund gerammt und gebohrt werden müssen, werden vor allem die Anwohner des Kernerviertels die nächsten Jahre massiv belasten. Im Planfeststellungsbeschluss PFA 1.1. heißt es dazu auf Seite 288: „Für den beantragten Planfeststellungsabschnitt ist eine Bauzeit von insgesamt acht Jahren veranschlagt. Ein derart zeitintensiver Baustellenbetrieb kommt einer dauerhaften Beeinträchtigung nahezu gleich; zumindest ist von einer Belastung der Betroffenen auszugehen, die weit über der üblichen und daher zumutbaren Belastung durch Baustellenlärm liegt.“ Weitere für das Kernerviertel relevante Auszüge aus den Beschlüssen zum PFA 1.1. und 1.2. finden Sie in unserem Handout.
Man sollte daher davon ausgehen, dass bei diesen Bauarbeiten zumindest das in der Planfeststellung vorgegebene Schutzkonzept vor Baubeginn umgesetzt ist. Doch dem ist nicht so. Wie wir bereits berichtet haben, hat das Netzwerk Kernerviertel in mehreren Schreiben das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) u.a. auf die unzureichenden Lärmprognosen in den schalltechnischen Detailgutachten aufmerksam gemacht. Diese Gutachten müssen laut Planfeststellung vor Baubeginn vorliegen und müssen ein realistisches Bild von der jahrelangen hohen Lärmbelastung der Anwohner geben. Im Planfeststellungsbescheid heißt es dazu auf Seite 44f: „Die Vorhabenträgerin [die Bahn] wird verpflichtet, dem Eisenbahn-Bundesamt rechtzeitig vor Baubeginn auf der Grundlage der schalltech-nischen Untersuchung zum Baubetrieb (Anlage 16.2) für die Baugruben, Baubetriebs-flächen und Baustraßen schalltechnische Detailgutachten vorzulegen. Die Gutachten sind abschnittsübergreifend zu erarbeiten, d.h. es sind jeweils sämtliche, gleichzeitig auftretenden Schallimmissionen zu berücksichtigen, unabhängig von der Zuweisung zu einem bestimmten Planfeststellungsabschnitt. Die Schallgutachten haben auch über die Wirksamkeit von Schallminderungsmaßnahmen Auskunft zu geben.“
Auf Basis dieser schalltechnischen Gutachten ist dann die Entscheidung über die aktiven und passiven Schutzmaßnahmen (Schallschutzfenster) sowie die Entschädigungen, z.B. für die eingeschränkte Nutzung der Außenbereiche (Balkon, Terasse) im Extremfall bis zur Hotelunterbringung zu treffen. Dazu heißt es im Planfeststellungsbescheid auf S.45:
„Die Entscheidung über die konkreten Schutzmaßnahmen behält sich das Eisenbahn-Bundesamt auf Grundlage der Detailgutachten gemäß § 74 Abs. 3 VwVfG vor.“
Doch die Lärmplanungen der Bahn für die langjährigen Bauarbeiten insbesondere zur Herstellung des Tiefbahnhoftrogs sind derart rudimentär, dass sie nicht im entferntesten das kommende Baugeschehen und die damit verbundene Lärmbelastung für die An- wohner widerspiegeln. Die bisher in den Briefen des Netzwerks Kernerviertel geäußerte Kritik wurde jetzt durch die Pressekonferenz am Dienstag zum Baustart des Tiefbahnhofs, in der ein Beauftragter der Baufirma Züblin die Bauschritte und -zeiten für die Baufelder 16, 22, 25 und 1 präsentierte (Video / Präsentation), noch einmal deutlich bestätigt. Der Verdacht drängt sich auf, dass im schalltechnischen Detailgutachten für den Trogbau (hier) bewusst in die „Trickkiste“ gegriffen wurde, um die Lärmwerte – die zum Teil in der Prognose bereits über den Maximalwerten aus der Planfeststellung liegen – und die Kosten für die Schutzmaßnahmen möglichst niedrig zu halten. Der Vergleich zwischen der Bauplanung und den in den schalltechnischen Detailgutachten zugrundegelegten Baugeschehen weist in zentralen Punkten große Diskrepanzen auf, so dass man nicht mehr vom selben Bauprojekt sprechen kann. Eine grobe Übersicht finden Sie hier.
Bautaktung der Baufelder für den Trogbau
Nach der geplanten Bautaktung für den Trogbau (hier) soll an bis zu 10 Baufeldern parallel gearbeitet werden. Auch die auf der letzten Pressekonferenz vorgestellte Bauplanung für 2014 / 15 sieht zeitgleich Arbeiten an den Baufeldern 1, 16, 22 und 25 vor. Das Baufeld 25 war ursprünglich in der Bautaktung der Phase 1 nicht geplant. Dies wird sicherlich der 2 1/2 jährigen Bauverzögerung geschuldet sein. Der Vertreter der Firma Züblin musste auf der Pressekonferenz einräumen, dass die ursprünglich eingebauten Zeitpuffer nicht mehr vorhanden sind. Um den ambitionierten Zeitplan für die Fertig-stellung zu halten, wird die Baufirma Züblin sicherlich noch an deutlich mehr Baugruben zeitgleich arbeiten müssen.
Doch statt für diese sämtlichen, zeitgleichen Baustellen entsprechend den Vorgaben der Planfeststellung eine umfassende Lärmprognose zu erstellen, hat das Gutachterbüro in den drei separaten Lärmszenarien für den Trogbau am Süd- bzw. Nordkopf bzw. Trog- mitte jeweils nur den Lärm einer einzigen (!) Baugrube ohne die Kanalarbeiten für den Medienkanal und Cannstatter Düker zugrundegelegt. Auch die unmittelbar neben den Wohnhäusern des Kernerviertels stattfindenden Bauarbeiten für die Baugrube 25, bei der auch Bohrpfähle zur Gründung gesetzt werden müssen, wurden nicht in der Lärmpro- gnose für den Trogbau berücksichtigt.
Zeitdauer der Bauarbeiten für ein Trogbaufeld
Für den Bau des Trogs sind 25 Baufelder vorgesehen, die in der Größe und der Aushubtiefe variieren. Die auf der Pressekonferenz prognostizierten Bauzeiten liegen zwischen fast zwei Jahre für die Baugrube 16, bei der auch Kanalarbeiten integriert sind, und einem Jahr Bauzeit für die vergleichsweise kleinere Baugrube 25 am Anfahrbereich Süd. Für die Bauarbeiten zur Herstellung der Baugrube 16 hat der Bauleiter der Firma Züblin eine detaillierte Zeitplanung präsentiert, die in der Präsentation auf Seite 22 zu finden ist. Allein für die Rammarbeiten sind in diesem Zeitplan 2 Monate, für die Bodenplatten 7 Monate und für die Kelche der Dachkonstruktion 9,5 Monate angesetzt.
Für den Bau eines exemplarischen Baufeldes setzte das Gutachterbüro in den schall-technischen Detailgutachten einschließlich aller Aushub-, Ramm- und Betonier- und Verschalungsarbeiten insgesamt nur 36 Kalenderwochen an. Den Ausschnitt aus dem Gutachten zum Trogbau auf Seite 28 finden Sie hier. Die Rammarbeiten sowie die Betonierarbeiten für den Trogboden und die Dachkontruktion sind jeweils nur mit 4 Kalenderwochen angesetzt. Die geplante Bauzeit am Baufeld 16 überschreitet die in den schalltechnischen Detailgutachten eingerechnete Zeit um über 1 1/4 Jahre. Auch das verhältnismäßig kleine Baufeld 25 benötigt 50 % mehr Bauzeit als der Gutachter in seinem exemplarischen Beispiel angesetzt hatte. Es ist deutlich erkennbar, dass das Baugeschehen des Lärmgutachtens nicht auf Basis der Ausführungsplanung angesetzt wurde. So ist beispielsweise vorgesehen, die Baugruben bis zu einer Tiefe von 16 bis 23,5 Metern auszu-heben. In dem Gutachten wurde hingegen nur von einer Aushubtiefe bis 12 Metern ausge-gangen. Ein anderes Beispiel: Die komplexen Betonarbeiten für die Kelche der Dachkon-struktion sind in dem schalltechnischen Detailgutachten zum Trogbau nicht einmal an- satzweise kalkuliert.
Tägliche Bauzeit
Die Bauarbeiten für den Trogbau werden von Montag bis Samstag zwischen 7 und 20 Uhr stattfinden. Dies hat auch der Vertreter der Firma Züblin auf der Pressekonferenz noch einmal deutlich betont. Im Bericht der Stuttgarter Nachrichten (hier) heißt es dazu: „Viele Fahrten sind auch für die Anlieferung nötig. Wenn die Sohle der Baugrube erreicht ist, würden pro Schicht, die von 7 bis 20 Uhr dauert, 1500 Kubikmeter Beton gegossen, sagte Bögel. Mehr lasse sich während der 13 Stunden nicht verarbeiten.“
Das Gutachterbüro setzt jedoch in den schalltechnischen Detailgutachten für die lämintensiven Trogbauarbeiten auf Seite 37 bis 43 nur eine maximale Bauzeit vom 8 Stunden an. Aufgrund der anteiligen Einsatzdauer sind damit alle Trogbauarbeiten, einschließlich der lauten Bohr- und Rammarbeiten, jeweils mit einem Abschlag gemäß der AVV-Baulärm von 5 dB(A) bzw. 10 dB (A) in den Prognosen eingerechnet.
Fazit
Der langjährige Gutachter der Bahn, der bereits die schalltechnischen Prognosen für die Planfeststellung erstellt hatte und zugleich als „unabhängiger“ Immissionsschutzbeauf-tragter fungiert, hat hier definitiv nicht die Auflagen der Planfeststellung eingehalten. Die Lärmprognose für den Trogbau basiert nicht auf der geplanten Bautaktung der Baufelder und berücksichtigt weder die Zeitpläne der einzelnen Bauschritte, noch auf die ange- setzten täglichen Arbeitsstunden. Die in den schalltechnischen Detailgutachten errechneten Lärmprognosen können daher nicht die Belastungen der Anwohner durch das geplante Baugeschehen für die jahrelangen Trogbauarbeiten widerspiegeln.
Die Berechnungen für die einzelnen Gebäude im Gutachten zum passiven Schallschutz, das die Bahn mit dem Hinweis auf den Datenschutz unter Verschluss hält, können daher nicht stimmen. Besonders die zu kurz angesetzten Bauzeiten können sich unmittelbar auf den Anspruch auf passiven Schallschutz auswirken. Erst bei einer mehr als 2-monatigen Überschreitung der Richtwerte nach der AVV-Baulärm über 5 dB(A) besteht ein Anspruch auf den Einbau von Schallschutzfenstern und den Entschädigungen, wie z.B. für die eingeschränkte Nutzung der Außenbereiche. Es ist damit zu rechnen, dass ein weit größerer Kreis von betroffenen Eigentümern Anspruch auf passiven Schallschutz hätte.
Man müsste eigentlich davon ausgehen, dass dem EBA diese massive Abweichung von den Auflagen aus der Planfeststellung, die es selbst erlassen hatte, bei der Prüfung auffallen sollte. Doch weit gefehlt. Das Netzwerk Kernerviertel hat das EBA seit Februar in mehreren Mails und Briefen das EBA (23.05.2014 und 08.07.2014) und die Stadt Stuttgart u.a. auf diese massiven Defizite in der Lärmprognose aufmerksam gemacht und ein neues umfassendes schalltechnisches Detailgutachten für das Kernerviertel auf Basis der aktuellen Bauplanung sowie die Veröffentlichung des Gutachtens zum passiven Schallschutz gefordert. Passiert ist seither nichts. Auf Nachfrage musste das EBA auch im Februar schriftlich einräumen, dass ihm nicht einmal das Gutachten zum passiven Schallschutz vorliegt, obwohl das EBA als Aufsichtsbehörde darüber nach der Planfeststellung entscheiden müsste. Auch die farbigen Schallausbreitungskarten für die drei exemplarischen Trogbaufelder lagen dem EBA nur in schwarz-weißer Kopie und damit nicht auswertbar vor. Man muss leider davon ausgehen, dass das EBA weder die personelle Kapazität zur Prüfung besitzt, noch an einer Einhaltung der von ihm gesetzten Auflagen Interesse hat. Das Eisenbahn-Bundesamt wird auch in Sachen Lärmschutz seiner wichtigen Funktion als Aufsichtsbehörde bei diesem Mega-Bauprojekt nicht gerecht.
Aber letztendlich kann das EBA und die Bahn davon ausgehen, dass die Beschwerden von Anwohnern über die lauten Trogbauarbeiten ins Leere laufen werden. Das abgestimmte Messkonzept für den PFA 1.1. sieht vor, dass im Kernerviertel nur an einem einzigen Messpunkt aller 4 bis 6 Wochen jeweils für 7 Tage gemessen wird. Dass dabei auch bewusst Zeiten mit geringeren Lärmemissionen ausgewählt werden können, ist nicht von der Hand zu weisen. Zusätzliche Messungen sollen nur bei Beschwerden vorgenommen werden. Laufende Messungen, die auch die Überschreitungen der Richtwerte der AVV-Baulärm und der prognostizierten Lärmwerte dokumentieren würden, sind nicht vorgesehen. Die Anwohner können daher mangels Lärmaufzeichnungen auch nicht nachträglich ihren Anspruch auf passiven Schallschutz und Entschädigungen einklagen.
Die Schutzauflagen, unter denen die Baugenehmigung für die jahrelangen Bauarbeiten erteilt wurde, werden damit von der Bahn ohne Konsequenz unterlaufen und die Fachbehörden greifen nicht ein. Die in den Netzwerken organisierten Eigentümer und Anwohner werden dies nicht einfach so hinnehmen und fordern weiterhin vom Eisen- bahn-Bundesamt einen Baustopp, bis alle Auflagen aus den Planfeststellungsbescheiden in Sachen Lärmschutz umgesetzt sind.
Man kann sich hier an Bertold Brechts Dreigroschenoper erinnert fühlen. Frei nach dem Motto: „Ja, mach nur einen Plan/sei nur ein großes Licht /und mach dann noch ’nen zweiten Plan/ gehn tun sie beide nicht…“.