Über den aktuellen Baustand bei den geplanten 59 Tunnelkilometern für Stuttgart 21 berichten wir in regelmäßigen Abständen, zuletzt vor wenigen Tagen. Doch wie sieht es beim Bau des „Tiefbahnhofs“ aus?
Der in der Schlichtung präsentierte Zeitplan für die Bauarbeiten, die eisenbahntechnische Innenausstattung des „Tiefbahnhofs“ sowie den einjährigen Probebetrieb umfasst insgesamt achteinhalb Jahre. Davon waren entfallen auf die Erstellung des Rohbaus sechs Jahre. Zum Schutz des Mineralwassers ist eine Bautaktung der 25 Baufelder in neun Bauphasen vorgesehen.
Mehr als sechs Jahre nach dem offiziellen Baustart für Stuttgart 21 im Februar 2010, mehr als vier Jahre nach der Freimachung des Baufeldes durch die Rodung des historischen mittleren Schloßgartens und fast zwei Jahre nach dem offiziellen Baustart des „Tiefbahnhofs“ erleben die Stuttgarter das Gebiet rund um den Hauptbahnhof als eine „Baustellenwüste“ und „Wunde in der Stadt“. Den Anwohnern, Anliegern und Bahnfahrern mutet die Bahn über ein Jahrzehnt eine Dauerbaustelle zu. Selbst Befürworter des Projekts müssen schmerzlich mitanschauen, dass die Bahn das Projekt offensichtlich nicht im Griff hat. Die auch in der Schlichtung vorgebrachten Kritikpunkte zur schwierigen Geologie des Baugrundes und dem Brandschutz haben sich bestätigt. Es ist ein Trauerspiel.
Zweieinhalb Jahre nach der Rodung des mittleren Schloßgartens im Februar 2012 tat sich auf der Brache außer Abrisse, Leitungsverlegungen, den Bau der Baustraßen und die mediengerechte Umschichtung von Erdhügeln nicht viel. Der Start für den Trogbau wurde von der Bahn zwar wiederholt für Anfang 2013 angekündigt (StZ 1 / StZ 2 / StZ 3). Doch das Planänderungsverfahren zur Verdoppelung der Grundwasserentnahmemenge verzögerte den eigentlichen Baustart des „Tiefbahnhofs“ um weitere eineinhalb Jahre auf Anfang August 2014. Auch danach ging der Baubetrieb nur schleppend voran. Vollmundige Ankündigungen der Bauzeitenpläne in der Presse und auf den Anwohnerveranstaltungen für das Kernerviertel waren nach kurzer Zeit Makulatur. Über die deutlichen Verzögerungen, die sich bereits nach einem Jahr Bauzeit zeigten, berichteten wir in einem Beitrag sowie die Stuttgarter Zeitung (hier) und der SWR (hier). Wie komplex allein die Gründung des Baugrundes ist, zeigt unserer Beitrag über den Uni-Vortrag des vom Eisenbahn-Bundesamt beauftragten geotechnischen Sachverständigen.
Noch in der letzten Lenkungskreissitzung im November 2015 ging die Bahn trotz „angespannter Terminsituation“ von einer Inbetriebnahme von Stuttgart 21 im Dezember 2021 aus. „Zahlreiche terminliche Gegensteuerungsmaßnahmen sind erfolgreich“ hieß es weiter in der Projektübersicht. Trotz des in der Präsentation ausgewiesenen, rot markierten Zeitverzugs von einem Jahr wies die Bahn damals einen positiven Trend für den Bau der Bahnhofshalle aus. Drei Gegensteuerungsmaßnahmen, u.a. das parallele Betonieren der Kelchstützen, seien in Prüfung.
Jetzt musste der Bahnvorstand in seinem Bericht an den Aufsichtsrat zwei Jahre Bauverzögerung beim Bau des „Tiefbahnhofs“ einräumen, dem mit einer Verlängerung der täglichen Bauzeit bis 22 Uhr und dem parallelen Bau von weiteren Baufeldern, der nicht von der Planfeststellung abgedeckt ist, entgegengesteuert werden soll. Dr. Martin Vieregg, der im Auftrag des Aktionsbündnisses die Gegengutachten zu Stuttgart 21 erstellt hat, sprach im Deutschlandradio (hier) bereits von vier Jahren Bauverzögerung bei Stuttgart 21.
Entgegen dem im August 2014 zum Baustart des „Tiefbahnhofs“vorgestellten Zeitplan sind die ersten drei der insgesamt fünundzwanzig Baufelder immer noch im Bau. Eine Twittermeldung zeigt den Baufortschritt zwischen Oktober 2014 und Mai 2016:
Ein konkreter Zeitpunkt für die Fertigstellung der drei Baufelder 16, 22 und 25 ist nicht absehbar. Bis heute ist nicht einmal ein Grundstein für den „Tiefbahnhof“ gelegt, geschweige denn die Bodenplatte eines Baufeldes betoniert. Schuld daran sind Umplanungen, fehlende Baufreigaben durch die vom Eisenbahn-Bundesamt beauftragten Sachverständigen, noch nicht genehmigte Planänderungen und die Achillesferse des Projekts, das nicht abschließend freigegebene Brandschutz- und Entrauchungskonzept.
Die für den Bau verantwortlich DB Projektbau Stuttgart-Ulm GmbH (PSU) desinformierte immer wieder die Öffentlichkeit über den Fortgang der Bauarbeiten. Eigentlich hätte nach dem Zeitplan die Bodenplatte im Startbaufeld 16 im März 2015 fertig sein müssen. Dann versprach Manfred Leger, verantwortlicher Projektchef für Stuttgart 21, im April 2015 in dem StZ-Interview „Warten wir ab, wie schnell wir noch werden“ mit der Stuttgarter Zeitung: “ In diesem Sommer werden wir das Betonieren der Bodenplatte erleben, und im Frühjahr 2016 sieht man dann die erste kelchförmige Stütze des Bahnhofsdachs entstehen. Und dann geht es ratzfatz.“ Stattdessen präsentierte die Projektgesellschaft als „Riesen-Meilenstein“ das Betonieren einer Probe-Achtel-Kelchstütze. Im Oktober 2015 berichteten die Stuttgarter Nachrichten (hier) über den fehlenden Statik-Nachweis der Bodenplatte. Die Statik erst nach dem Baustart zu liefern, sei „völlig normal“, so die Aussage der Vertreter der PSU eine Woche später vor dem Umwelt- und Technikausschuss. Parallel dazu erklärte Manfred Leger in der Südwest-Presse (hier), dass die Pläne die Fluchtreppen zu verlegen vom Eisenbahn-Bundesamt noch nicht genehmigt seien; die Entscheidung könne aber „in ein paar Monaten fallen„. Am 04.11.2015 vermeldete die Projektgesellschaft in den Präsentationsunterlagen für den Lenkungskreis, dass die Bodenplatte für das Startbaufeld 16 vom EBA-Prüfingenieur freigegeben sei und die Herstellung der Bodenplatte folge.
Auch aus der von der Projektgesellschaft lancierte Ankündigung der Betonierarbeiten für Januar 2016 (StZ) wurde nichts. Stattdessen Lichtshows an den „Tagen der offenen Baustelle“. Die Ingenieure22 kommentierten im Februar 2016 in einem lesenswerten Rundbrief die wiederholten Ankündigungen der Bahn über die ersten Betonarbeiten. Noch vor zwei Monaten sprach Manfred Leger in einem StZ-Interview (hier), dass sich das Projekt in der „Beschleunigungsphase“ befände und erklärte: „Wir gehen davon aus, dass die letzte noch ausstehende Genehmigung für die Fertigstellung der Bodenplatte noch vor den Sommerferien kommt.“ Erst am 12.Mai erklärte der Projektchef auf der Anwohnerveranstaltung in Unterürkheim, dass die erste Bodenplatte im Trogbaufeld in diesem Sommer gegossen werden soll. Eine erste Kelchstütze würde im Herbst dazukommen.
Zuletzt berichtete die Stuttgarter Zeitung in der Printausgabe vom 4.Juni 2016 über die Desinformation der Projektgesellschaft: „… In zwei Baugruben am Bahnhof hat die Bahn zumindest teilweise die Genehmigung. Im Loch vor der LBBW, in der Bahnzählung nach Nr. 8, habe man die komplette Genehmigung vorliegen, sagte Anfang vergangener Woche ein Sprecher. Was er nicht sagte: Die Genehmigung bezieht sich nur auf einen kleinen Abschnitt der Grube, die in Gänze derzeit gar nicht ausgehoben werden kann. Da ist unter anderem noch die Heilbronnerstraße im Weg…“.
Jetzt erwartet die Projektgesellschaft laut Bericht des Bahnvorstandes an den Aufsichtsrat (StN) wegen der jetzt erst beim Eisenbahn-Bundesamt beantragten Verlagerung der Fluchtreppenhäuser die Statikfreigabe für die Bodenplatten für alle Baufelder der Halle des „Tiefbahnhofs“ (Nr. 9 bis 18) erst im Juni 2017! Bis dahin wird sich auf diesen Baufeldern nicht viel tun. Unklar auch, ob die angrenzenden Baufelder, wie beispielsweise das Baufeld 22, von der fehlenden Statikfreigabe betroffen sind. Auf diesem Baufeld wollte eigentlich die SSB ab Juli 2016 ihre neue Haltstelle „Staatsgalerie“ bauen. Auch im Baufeld 25 am Südkopf neben der grünen Lärmschutzwand hätten die Bauarbeiten im Juli 2016 abgeschlossen sein müssen.
Dank der Fotos, die uns der Luftbildfotograf Manfred Grohe zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat, können wir einen aktuellen Eindruck des Baustand der Bauarbeiten der Bahn und der SSB rund um für den geplanten „Tiefbahnhof“ vermitteln. Sehen sie selbst:
Luftbild 1: Dieses Foto gibt einen guten Überblick über den Umfang der angefangenen Baugruben und der Verkehrsverschwenkungen rund um den Hauptbahnhof mehr als sechs Jahre nach der Prellbockanhebung, vier Jahre nach der Rodung des mittleren Schloßgartens zur Freimachung des Trogbaufeldes und fast zwei Jahre nach dem offiziellen Beginn der Bauarbeiten für den „Tiefbahnhof“ im August 2014 . Rechts unterhalb des Planetariums befindet sich entlang der B14 die Baugrube für die neuen SSB-Tunnel SSB, die im Zuge der Verlegung der Haltestelle Staatsgalerie gebaut werden.
Luftbild 2: Diese Foto zeigt den nördlichen Abschnitt der Trogbaufelder (1-12). im oberen Abschnitt erkennbar ist die Baugrube 1 mit dem Portal der beiden Tunnelröhren unter dem Kriegsberg. Davor die Fassade der ehemaligen, denkmalgeschützten Bundesbahndirektion, die mit Abstützungsmaßnahmen und Hebungsinjektionen nur knapp unterfahren werden soll. Zwischen den beiden überdachten, provisorischen Fußgängerstegen das Baufeld 12, auf dem jetzt die neuen Stege im Bau befindlich sind.
Luftbild 3: In der Mitte des Fotos ist das mit einer 10 cm Sauberkeitsschicht betonierte Startbaufeld 16 erkennbar, aus dem noch die Pfähle herausschauen. Nach dem Zeitplan der ausführenden Baufirma Züblin vom August 2014 hätte dieses Trogbaufeld einschließlich der Bodenplatte und der Kelche für die Lichtaugen des „Tiefbahnhofs“ im Mai 2016 fertig gestellt sein. Jetzt laufen noch die eigentlich für Frühjahr 2015 geplanten Bauarbeiten am Ober- und Unterhaupt des Cannstatter Dükers, der dieses Baufeld unterquert.
Luftbild 4: Oberhalb der Willy-Brandt-Straße und unterhalb des grauen Förderbandes ist die ausgehobene Grube des Baufeld 22 zu erkennen. Nach dem im August 2014 auf der Pressekonferenz vorgestellten Zeitplan müsste der Trogblock im April 2016 fertig gestellt sein. Anschließend sollten eigentlich die zweijährigen Bauarbeiten der SSB zum Bau der neuen Haltstelle „Staatsgalerie“ starten. Links neben dem Planetarium ist der Bau für das Pumpenhaus den Nesenbachdükers erkennbar. Mehr ist aber von den seit Juni 2015 laufenden Bauarbeiten noch nicht zu sehen. Der Nesenbachdüker, der vom Planetarium bis zum König-Katharinen-Stift nach einer Planänderung in offener Bauweise hergestellt werden soll, hätte nach der ursprünglichen Zeitplanung der Bahn seit Jahren bereits fertig gestellt sein sollen. Über die komplexen Abhängigkeiten des Baufortschritts der Bahn und der SSB am Südkopf, bei dem der Nesenbachdüker eine Achillesferse darstellt, haben wir bereits berichtet. Der versehentlich Anfang Januar 2016 an den Tagen der „offenen Baustelle“ ausgehängte Zeitplan ging von einer Fertigstellung des Südkopfes erst im Jahr 2023 aus. Auf Nachhaken des Aktionsbündnisses und des Netzwerks Kernerviertel dementierte die Projektgesellschaft diesen Zeitplan als „worst-case“ eines Workshops. Dabei ist jetzt bereits schon am hinterher hängenden Baufortschritt zu erkennen, dass es wohl mehr ein „best-case“-Szenario darstellt.
Luftbild 5: Gut erkennbar ist die Verkehrsverschwenkung am Gebhard-Müller-Platz zur Freimachung der Baufläche vor dem König-Katharinen-Stift. Die große graue Fläche ist das wegen des 24-Stunden-Tunnelbaubetrieb incl. Steinbrecher nachträglich erforderliche Schallschutzdach vor dem Portal der Rettungszufahrt Süd neben dem Wagenburgtunnel. Am rechten oberen Bildrand ist das Baufeld 25 zu erkennen. Auch dieses hätte nach dem im August 2014 vorgestellten Zeitplan einschließlich des Schwallbauwerkes bereits im Juli 2016 fertig gestellt sein sollen. Aktuell wird nach dem Einbringen der Verbaupfähle die Grube ausgehoben. Die weiteren Bauarbeiten sind abhängig von der Genehmigung der Planänderung des Entrauchungskonzeptes mit den dafür vorgesehenen neuen Hochleistungslüfter für das Schwallbauwerk Süd.
Update 3.Juli 2016: Die Stuttgarter Zeitung berichtete in ihrer gestrigen Printausgabe, dass die Bodenplatte für den „Tiefbahnhof“ jetzt doch vom Eisenbahn-Bundesamt genehmigt wurde. Näheres finden Sie auch in unserem Beitrag.