Bericht über die letzte Anwohnerveranstaltung. Lässt die Bahn die Untertürkheimer wirklich nicht im Regen stehen?

Bericht des Netzwerks Wangen/Untertürkheim:

Letzten Donnerstag, am 12.Mai 2016,  fand in Untertürkheim die Anwohnerveranstaltung über die bevorstehenden Unterfahrung des Lindenschulviertels statt. Alice Kaiser als  Bürgerbeauftragte der Stadt Stuttgart und die Untertürkheimer Bezirksvorsteherin Dagmar Wenzel begrüßten ca. 150 der ungefähr 900 Anwohner in der gut besuchten Sängerhalle. Die Bürgerbeauftragte wies zu Beginn der Veranstaltung wie üblich darauf hin, dass weder Fotografieren, noch Tonaufnahmen etc. wegen Persönlichkeitsrechten der Referenten zulässig sind. Update: Die beiden Stuttgarter Zeitungen berichteten im Beitrag „Bei kritischen Punkten kneift die Bahn“ über die Untertürkheimer Veranstaltung.

Begrüßung durch Projektchef Manfred Leger

Projektchef Manfred Leger erklärte in seiner Begrüßung den Anwohnern,  dass die Bahn wisse, dass Bauen in der Stadt eine große Herausforderung und der Lärmschutz ein sensibles Thema sei. Er wies auf den Baufortschritt beim Projekt Stuttgart 21  und der Neubaustrecke hin. Von den 59 geplanten Tunnelkilometern seien in Stuttgart aktuell 14,1 km aufgefahren. Erneut erwähnte er den Aufwand und die Kosten für die Umsiedelung der Eidechsen. Von einer Einhaltung des Zeitplans und des Kostenbudgets beim Großprojekt Stuttgart 21 war in seiner Begrüßung im Gegensatz zu früheren Veranstaltungen nicht mehr die Rede.  Stattdessen beschränkte er sich auf die Aufzählung von Etappenzielen. Der Tunneldurchschlag einer Röhre des Obertürkheimer Tunnels zur Innenstadt soll Anfang nächsten Jahres erreicht werden. Die erste Bodenplatte im Trogbaufeld soll im Sommer gegossen werden, eine erste Kelchstütze wird im Herbst dazukommen. Da sind wir aber gespannt!

Der Projektchef sicherte zu, dass die Fragen nach „bestem Wissen und Gewissen“ beantwortet werden würden. Die Präsentationsfolien der Veranstaltung finden Sie hier.

Geplante Tunnelvortriebsarbeiten / Geologie / Zeitplan

  • Die Präsentation über die geplanten Vortriebsarbeiten hielten Abschnittsleiter Günther Osthoff und der Teilabschnittsleiter Benjamin Denk.
  • Zunächst wurde der Baufortschritt dargelegt und betont, dass die Unterquerung des  Kraftwerkskanals anspruchsvoll sei.
  • Bis Jahresende soll die erste Röhre des Obertürkheimer Tunnels die Losgrenze am Bruckwiesenweg erreichen. Der nach der Planfeststellung vorgesehene Startschacht an der Bruckwiesenbrücke wird nicht hergestellt. Der Aushub soll aus Immissionsgründen nur über den Zwischenangriff Wangen abgewickelt werden. Die ausstehende Genehmigung der Planänderung in Obertürkheim erwähnte der Abschnittsleiter nicht.
  • Vom Zwischenangriff Wangen wurde die Röhre/Achse 62 bisher 862 m in Richtung Obertürkheim vorgetrieben (bis vor den Kraftwerkskanal), die Achse 61 lediglich 278 m. Diese ist derzeit noch ca. 200 m vom Neckarufer entfernt und die Arbeiten ruhen gerade.
  • Auf die Frage, aus welchem Grund die beiden Röhren so unterschiedlich weit vorgetrieben werden, antwortete Herr Osthoff lediglich: „Das hat mit der Geologie zu tun“ und ging nicht näher auf diesen Punkt ein. Beim Vortrieb wird nach der Neuen Österreichischen Technik NÖT gearbeitet. Es gibt unterschiedliche Vortriebsklassen 1-7 mit jeweils unterschiedlichen Sicherungen. In Untertürkheim sind die Vortriebsklassen 4-7 mit vorauseilenden Sicherungen, wie Spieß- und Rohschirme vorgesehen.
  • Auf mehrfache Nachfrage räumte der Abschnittsleiter Günther Osthoff ein, dass der Tunnelquerschnit ca. 10 Meter beträgt. Anmerkung: Damit sind viele Gebäude im Lindenschulviertel nur 10-15 Meter von der Tunnelröhre entfernt. Am Bruckwiesenweg sogar noch darunter. Deutlich wird dies beispielsweise aus dem Längsschnitt, der das Wirtemberg-Gymnasium betrifft. Derzeit wird die tiefer gelegte Röhre mit einer Überdeckung von 22,5 Metern gebaut. Die zweite Röhre ist nur 12,55 Meter vom Keller des Schulgebäudes entfernt:

  • Nachdem das Netzwerk Wangen/ Untertürkheim schon seit 3 Jahren Fragen zur Geologie stellt, gab es nun immerhin ein paar Informationen. Die Gebirgsschicht besteht u.a. aus ausgelaugtem und nicht ausgelaugtem Gipskeuper. Die Röhre 62 liegt „in weiten Bereichen“ (Zitat) im unausgelaugten Gipskeuper, am Ende des Vortriebs Richtung Bruckwiesenweg trifft sie auf ausgelaugten Gipskeuper. Der quellfähige Anhydrit liegt 80 Meter unter der Tunnelsohle.
  • Herr Osthoff beschränkte sich leider bei seinem Vortrag zur Geologie auf das Thema Anhydrit, was laut seiner eigenen Aussage in Untertürkheim und Obertürkheim kein Thema ist. Relevante Informationen zur Geologie, also wie genau der Untergrund im Lindenschulviertel und im Bereich Bruckwiesenweg beschaffen ist, blieb die Bahn auch in dieser „Informationsveranstaltung“ den Bürgerinnen und Bürgern schuldig.

Beweissicherung / Vortriebsmessungen / Beweislast

  • Die Beweissicherungen der Gebäude sind noch am laufen.
  • Zusätzlich zu dem in der Planfeststellung beschränkten Bereich wird wegen der speziellen Geologie (Aufschüttungen) noch einige Gebäude zusätzlich in die Beweissicherung mit einbezogen (siehe Plan Foliensatz).
  • Während der Vortriebsarbeiten werden Setzungsmessungen durchgeführt, bis im Nachlauf keine Veränderungen mehr gemessen werden.
  • Auf Nachfrage erklärte der Rechtsanwalt der Bahn Peter Schütz, dass der von der Bahn in den Gestattungsverträgen eingeräumte sogenannte „Anscheinsbeweis“ sich im Schadensfalle auf den unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit den Vortriebsarbeiten beschränkt.  Darüber hinaus gelten die gesetzlichen Haftungsregeln, nachdem der Geschädigte die Verursachung des Schadens nachweisen müsse.
  • Das Netzwerk Untertürkheim hakte wegen der skandalösen Abwicklung des Schadensfalls in Wangen nach. Wir haben bereits darüber berichtet.

Immissionen / Sprengungen / Erschütterungsmessungen

  • Am Vormittag fand im Verkehrsministerium Baden-Württemberg wegen der von der Bahn beantragten erweiterten Sprenggenehmigung im Nachtzeitraum ein Treffen mit Vertretern der für die Genehmigung zuständigen Landesbergdirektion und dem Regierungspräsidium Freiburg statt. Die Bahn beantragt, die bisherigen Sprengzeiten zwischen 6 und 22 Uhr auszudehnen auf den Zeitraum zwischen 5 Uhr und 24 Uhr. Dies würde bedeuten, dass einmal mehr als bisher gesprengt werden würde und zwischen 24 Uhr und 5 Uhr in der Nacht keine Meißelarbeiten stattfinden würden. Allerdings ohne ein Ergebnis. Die Stuttgarter Zeitung berichtete darüber.   Die Bahn muss innerhalb der nächsten 3 Wochen nähere Informationen liefern. Welcher Art diese Informationen sind, beschrieb Herr Leger nicht.
  • Passend zum Thema war in diesem Augenblick eine Sprengung live zu hören, auf welche die Herren der Bahn mit einem fröhlichen Lachen reagierten. Herr Leger besaß zusätzlich die Dreistigkeit und bat darum, dass die Menschen doch das Landesamt für Geologie und Bergbau ansprechen und sich für die Ausweitung der Sprengzeiten einsetzen mögen. Argumentativ wurde er von Herrn Denk unterstützt mit der Aussagen, dass die Bahn mit erweiterten Sprengungen tatsächlich schneller fertig sei.
  • Die Sprengungen werden mit hintereinander geschalteten Zündern durchgeführt. Daher dauern sie bis zu 10 Sekunden.
  • Anwohner, die 100 m vor und hinter dem Einwirkungsort der Sprengung ansässig sind, erhalten Angebot zur Hotelübernachtung. Dies sei in ca. drei bis vier Wochen der Fall.
  • Erschütterungsmessungen werden an Referenzgebäuden des Lindenschulviertels durchgeführt. Die Messprotokolle sollen „monatlich gebündelt“ mit den Zeitpunkten der Sprengungen auf der Homepage veröffentlicht werden.
  • Die Auswahl für die Refernzmesspunkte wurde allerdings nicht begründet erläutert. Die betroffenen Anwohner würden per Postwurfsendung wegen der Aufstellung von Messgeräten informiert und sollen sich dann melden.
  • Messgeräte sollen z.B. in der Lindenschulstr. 12, 15 und in der Türkenstraße 3, 9, 12 aufgestellt werden. Seltsamerweise erhalten die bekannten Netzwerker dieses Angebot nicht.
  • In Bezug auf die Länge der Belastung wollte sich die Bahn nicht festlegen. Man gehe von drei Sprengungen am Tag innerhalb von 4-5 Stunden aus, die den Tunnel etwa 1,30 vorantreiben. Im Groben werden also 4 m pro Tag erreicht, im besten Fall beschränken sich die Belastungen auf ca. 50 Tage (100 m vor und 100 m hinter dem jeweiligen Haus). Leider vergaß Herr Osthoff die Tatsache, dass schon jetzt, auch wenn die Arbeiten noch ca. 200 m entfernt sind, der Lärm und die Erschütterungen der Sprengungen und der Meißelarbeiten spürbar sind und die Nachtruhe rauben.
  • Dass die Theorie oft nicht mit der Realität übereinstimmt, wurde auch von Herrn Osthoff bestätigt. Dies bedeutet im Klartext – die Prognosen der Bahn sind Makulatur im wahrsten Sinne des Wortes (= etwas führt zu nichts / ergibt keinen Sinn / bringt kein Ergebnis / ist wertlos / hinfällig / funktioniert nur scheinbar und ist auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten).

Masse-Feder-System (MFS)

  • Die Züge in den Tunneln fahren auf festen Betonfahrbahnen (im Gegensatz zu oberirdischen Gleisen auf Schotter). Die Erschütterungen sollen durch eine „Kunststoffunterlage“, das „Masse-Feder-System“, aufgefangen werden.
  • In Bezug auf das Masse-Feder-System wird folgendermaßen vorgegangen: Prophylaktisch müssen beim Tunnelrohbau mögliche Änderungen in Bezug auf das Masse-Feder-System mit einkalkuliert werden.
  • Die Bahn arbeitet derzeit mit prognostischen Werten, laut Herrn Fritz ist die Konfliktfreiheit (Erschütterungsgrenzwerte) anhand der Prognosen nachweisbar. Die tatsächlichen Erschütterungen sollen während des Betriebs gemessen und dem Eba mitgeteilt werden, das ggf. eine Nachjustierung vorschreibt.
  • Der Lärm im Bahnbetrieb wird tagsüber im Grenzbereich sein, nachts auch mit MFS wird das Geräusch von 30 dbA erreichen. Das ist der zulässige Bereich, aber deutlich wahrnehmbar.
  • Nach Aussage des Immissionsschutzbeauftragten für Schall und Erschütterungen Peter Fritz sind die geplanten Schutzmaßnahmen eher überdimensioniert statt unterdimensioniert. Falls doch nötig, gibt es für den Überbaubereich Sonderlösungen (elektr. gelegte Gleistragplatten etc. als Notbehelfe).
  • Das MFS soll lediglich bis zum Sportplatz eingesetzt werden, so dass der Bereich Bruckwiesenweg, der als Mischgebiet ausgewiesen war und in dem die Häuser zudem extrem niedrig (teilweise nur 10 Meter bis zum Tunnelfirst) untertunnelt werden sollen, ungeschützt den Erschütterungen ausgesetzt sind.
  • Herr Leger sicherte zu, dass der Sache nachgegangen werde und die Bürger „nicht im Regen stehen gelassen werden“ (Zitat). Dies sah Herr RA Schütz anders und vertrat die Ansicht, dass während der öffentlichen Auslage der ca. 300 Seiten umfassenden Unterlagen im Fachjargon zum Planfeststellungsbeschluss die betroffen Bürgerinnen und Bürger die Gelegenheit gehabt hätten, gegen das so geplante Masse-Feder-System Einspruch zu erheben. Dies bedeutet im Klartext, dass nach Ansicht von Herrn RA Schütz die Bürgerinnen und Bürger selbst schuld sind, weil sie sich nicht während der Zeit der Planauslegung mit den umfangreichen Planunterlagen und den komplexen ingenieurwissenschaftlichen Sachverhalten auseinandergesetzt haben.
  • Frau Kaiser sicherte eine Veranstaltung zum Thema Geologie/Problematik fehelndes MFS im Bruckwiesenweg zu, welcher der Bahn allerdings nicht zustimmen wollte. Die Vertreter der Bahn würden lieber mit den Bewohnerinnen und Bewohnern individuell ins Gespräch kommen. Was nun folgt, ist nicht klar.
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