59 Tunnelkilometer im Rohbau fertig bis 2019 – wie realistisch ist der Zeitplan von Stuttgart 21?

Diese Woche fand die knappe zweistündige Anhörung zu Stuttgart 21 vor dem Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages statt, zu der insgesamt sechs Sachverständige geladen waren. Schriftliche Stellungnahmen zur Anhörung haben nur die beiden von den Oppositionsparteien, den Grünen und der Linken, benannten Kritiker, Matthias Lieb (VCD) und Arno Luik (Stern) vorgelegt. Von den Spitzenvertretern der Bahn sind entgegen den Gepflogenheiten keinerlei schriftliche Vorberichte zu den Fragen gekommen. Die Fraktion der CDU hat eine öffentliche Übertragung der Sitzung verhindert. Die Pressemitteilung des Bundestages vermeldete als Fazit, dass Stuttgart 21 auch nach dem Baubeginn weiterhin „umstritten“ sei. Die Stuttgarter Zeitung (StZ 1 / StZ 2), die Stuttgarter Nachrichten (StN 1 / StN 2), der Stern (hier) berichteten über die Sitzung.  Wie zu erwarten, wurden von Seiten der Bahn alle Kritikpunkte zur Leistungsfähigkeit, zum Brandschutz, zu  Sicherheitsfragen sowie zu den Termin- und Kostenplänen beiseite gewischt.

Ist der Zeitplan der Bahn für Stuttgart 21 realistisch ?

So schreibt die StZ: „Kefer trat der Vermutung entgegen, der auf eine Inbetriebnahme im Jahr 2021 ausgelegte Zeitplan sei jetzt schon nicht mehr zu halten. „Das klappt, wenn wir pro Monat in Stuttgart einen Kilometer Tunnel bauen.“ Die bisherigen Vortriebs-leistungen lägen noch über dieser Zielvorgabe.“  Und laut der StN versprach Volker Kefer, dass der Rohbau von Stuttgart 21 bis 2019 fertig sein werde.

Doch ist dieser Zeitplan tatsächlich realistisch? Man fühlt sich an die Schlichtung erinnert, als der Bahnvorstand auf einem Schmierzettel überschlägig eine Kostenberechnung pro Tunnelkilometer machte. Nachrechnen ist da nicht verkehrt.

Die Zeitplan der Bahn für Stuttgart 21 war darauf ausgelegt, dass bis Ende 2018 der Rohbau der Tunnel steht. Anschließend sind 2 Jahre (2019/2020) für die bahntechnische Ausrüstung und ein Jahr (2021) für den Testbetrieb erforderlich. Eine Fertigstellung des Tunnelrohbaus in 2019 verkürzt entsprechend noch diese Phase. Wir haben dazu über den Fildertunnel berichtet.

Hochrechnung auf Basis von 1.000 Meter monatlich

Aktuell vorgetrieben sind seit dem ersten symbolischen Tunnelanstich im Dezember 2013 lediglich 4,5 der insgesamt 59 Tunnelkilometer. Eine Übersicht der Netzwerke zum 4.Mai 2015 finden Sie hier. Es fehlen noch insgesamt 54 Kilometer. Davon allein rund 41 Kilometer, die bergmännisch vorangetrieben und in einem zweiten aufwendigen Arbeitsgang noch für die Fertigstellung des Rohbaus verschalt werden müssen. Bei einem monatlichen Vortrieb von einem Kilometer wäre die verbleibende Strecke von 54 Tunnelkilometer in 4,5 Jahren bis Ende 2019 vorangetrieben. Allerdings ohne die Verschalung der 41 Kilometer bergmännischen vorgetriebenen Tunnel. Eine Fertiggstellung des Rohbaus einschließlich der Innenverschalung kann daher auch bis Ende 2019 auf Basis von einem Kilometer Vortrieb pro Monat definitiv nicht realisiert werden.

Hochrechnung auf Basis des aktuellen bergmännischen Vortriebs

Noch kritischer wird es, wenn man die Hochrechnung auf Basis des aktuellen Baufortschritts macht. In den letzten vier Wochen seit dem 7. April 2015 (hier) kamen die Vortriebsarbeiten rund 840 Meter voran. Davon 534 Meter beim maschinellen Vortrieb im Fildertunnel, 305 Meter beim bergmännischen Vortrieb. Im täglichen Durchschnitt waren es in diesem Zeitraum 19 Meter maschinell und rund 11 Meter bergmännisch. Doch nur rund 1/4 der 59 Tunnelkilometer wird maschinell einschließlich der zeitgleichen Innenverschalung hergestellt. 3/4 der Strecke werden bergmännisch vorangetrieben. Bei dem derzeitigen durchschnittlichen täglichen Baufortschritt von 11 Metern wäre die restliche bergmännische Strecke von 41 Kilometern frühestens in mehr als zehn Jahren durch den Stuttgarter Untergrund vorgetrieben, ohne Verschalung und ohne bahntechnische Innenausrüstung. Auch wenn sich der bergmännische Vortrieb durch mehr Zwischenangriffe /Tunnelbaustellen auf über 20 Meter am Tag verdoppeln wird. Dann wären es immer noch mindestens 5 Jahre allein für den Vortrieb ohne Innenverschalung, eisenbahntechnische Innenausstattung und Testbetrieb.

Vergleich mit den SSB-Tunnelstrecken

Wie optimistisch das Versprechen ist, die restlichen 54 Tunnelkilometer durch den geologisch kritischen Stuttgarter Untergrund in den nächsten 4 Jahren bis 2019 im Rohbau herzustellen, zeigt auch der Vergleich mit der Stuttgarter U-Bahn. Die gerade einmal halb so lange Strecke, nämlich 27 Kilometer Tunnel, hatte die SSB bis 2012 in einzelnen Abschnitten über einen Zeitraum von 50 Jahren gebaut. Einen Überblick vermittelt die Festschrift der SSB. Die überwiegenden Tunnelstrecken wurden in offener Bauweise und ohne die Unterfahrung von Gebäuden hergestellt, d.h. nur ein Bruchteil bergmännisch. Dabei ging die SSB, die den Stuttgarter Untergrund sehr gut kennt, kein Risiko ein. Im Gegensatz zu Stuttgart 21 durchschneidet beispielsweise kein einziger Tunnel der SSB den quellfähigen Anhydrit und unterfährt kein einziger Tunnel den Neckar knapp über den mineralwasserführenden Gesteinsschichten.

Wie die Planungszeiträume der Bahn und der SSB für halbwegs vergleichbare Tunnelbauten abweichen, zeigt ein aktuelles Beispiel. Für den Tunnel der 200 Meter langen Strecke der U12 in Richtung Hallschlag im Abschnitt Aubrücke müssen ebenfalls wie beispielsweise im Kernerviertel Gebäude knapp unterfahren werden. Für den Tunnelvortrieb im Ulmenstollenverfahren und den Rohbau dieser 200 Meter langen Tunnelstrecke plant die SSB (hier) einen Zeitraum von rund zwei Jahren. Für die 230 Meter lange Rettungszufahrt unter dem Kernerviertel sah der auf der Informationsveranstaltung im November 2013 präsentierte Zeitplan (3.Quartal 2013 bis 2.Quartal 2014) lediglich einen Zeitraum von einem dreiviertel Jahr vor. Doch bis heute, rund 1,5 Jahre nach dem Baubeginn im November 2013 laufen noch die letzten Verschalungsarbeiten an der Rettungszufahrt. Bereits bei einem so kurzen und schmalen Tunnel wurde der geplante Bauzeitraum der Bahn um 100% überschritten.

Zeitplan nicht realistisch-Bahn desinformiert Parlament und Öffentlichkeit

Daher war die Kritik des Journalisten Arno Luik am Zeitplan der Bahn in der Anhörung berechtigt und es stellt sich die Frage, wie die Bahn die Fertigstellung von Stuttgart 21 zum Ende des Jahres 2021 tatsächlich realisieren will. Auf Basis der genannten Zielsetzung von einem Kilometer pro Monat bzw. des aktuellen Baufortschritts ist dies nicht machbar.  Merkwürdig, dass bei der parlamentarischen Anhörung zu Deutschlands teuerster Baustelle keiner der anwesenden Abgeordneten den postulierten Planungshorizont der Bahn – die Fertigstellung des Rohbaus von weiteren 54 Tunnelkilometern in 2019 – wenigstens einmal überschlägig nachgerechnet hat.

Die Bahn hat damit wieder einmal ein Parlament und die Öffentlichkeit über den realistischen Umfang ihres Großprojektes desinformiert. Bereits vor drei Jahren hielt der Verkehrsminister des Landes BW Winfried Hermann in einem Interview mit der StZ (hier) die Eröffnung von Stuttgart 21 zum offiziellen Zeitpunkt für völlig unrealistisch:

“2025 wäre das schon extrem optimistisch kalkuliert. Es kann ja niemand wollen, dass wir bis 2030 eine Dauerbaustelle haben. Nicht weil wir schwergängig sind, sondern weil die Bahn es ist. Sie ist an den Verzögerungen schuld.”

Wenn man sich die Vortriebszahlen und den aktuellen Baufortschritt anschaut, ist absehbar, dass den Stuttgartern und vor allem den betroffenen Anwohnern an den Zwischenangriffen Dauerbaustellen auch weit über 2025 zugemutet werden. Wenn nicht vorher von der Deutschen Bahn selbst „die Notbremse“ bei einem aus dem Ruder laufenden Mega-Projekt gezogen wird.

Kostenrisiken bei Stuttgart 21

Auch bei den Kosten bestehen im Gegensatz zur Aussage der Bahn im Verkehrsausschuss deutliche Risiken. So schrieb die Zeit in ihrem Artikel „Unterirdisch in Stuttgart“ vom 13.August 2014: „Dass überdies die veranschlagten Baukosten für Stuttgart 21 in Höhe von 6,5 Milliarden Euro zu halten sein werden, wie die Bahn unverändert beteuert, glaubt Böttger [Bahnexperte Christian Böttger von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin], wie sämtliche organisierte Widerständler in Stuttgart, ebenfalls nicht. Mindestens acht Milliarden Euro Gesamtkosten und eine Bahnhofseröffnung frühestens im Jahr 2025, das sagen auch sehr gemäßigte, betriebswirtschaftlich geschulte Kritiker vorher.“

Wirtschaftsprüfer – so die Zeit in ihrem Beitag „Hohes Risiko“ von 23.Juli 2013  attestierten Stuttgart 21  ein hohes Kostenrisiko: „Die Bahn hat mögliche Nachforderungen von Auftragnehmern, wie sie bei Großprojekten üblich sind, in ihrer Kalkulation nicht ausreichend berücksichtigt. Ohne umfassende Maßnahmen rechnen die Prüfer mit einem im Vergleich zum „Gesamtwertumfang erheblichen Nachtragsvolumen“, also mit einer weiteren Kostenexplosion.“

Auch der sehr erfolgreiche Projektsteuerer Klaus Grewe (StZ/Deut.Baublatt), der an u.a. für das Crossrailprojekt in London arbeitet und 2013/14 für kurze Zeit als Mitglied im Beirat zu Stuttgart 21 saß, gab nach seinem Ausscheiden aus dem Beirat ein bemerkenswertes Interview der StZ (hier) zu den “Wunschzahlen” bei diesem Projekt.

Die Stuttgarter Zeitung berichtete bereits im Januar 2013 (hier), dass laut der Grünen-Fraktion im Bundestag die Bahn intern mit einer frühesten Fertigstellung in 2025 und elf Milliarden Kosten rechne.

Stuttgart 21 könnte – so resümmiert die Zeit im Beitrag „Hohes Risiko“ – „die größte Blamage der deutschen Baugeschichte werden“.

Hinweis auf aktuelle Beiträge zum Stand des Tunnelbau bei Stuttgart 21:

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