Gestern musste der Bahnvorstand Volker Kefer einräumen, dass die Inbetriebnahme von Stuttgart 21 zum Dezember 2021 nur mit erheblichen „erheblichen Gegensteuerungsmaßnahmen“ noch gehalten werden könne. Dennoch wurde den Teilnehmern des Lenkungsausschusses, darunter dem Landesverkehrsminister Winfried Herrmann und dem Oberbürgermeister der Stadt Stuttgart Fritz Kuhn zum Stand des Tunnelvortriebs in der 80 Seiten umfassenden Sitzungsunterlage eine Folie mit der Überschrift „Stuttgart 21 – deutlicher Baufortschritt in allen Bereichen“ präsentiert , in der lediglich fünf Zahlen mit den die aktuellen Vortriebsstände der Tunnelstrecken aufgelistet sind, jedoch nicht einmal die Soll-Zahlen oder der prozentualen Stand. Als weitere Information findet man in der rechten unteren Ecke eine kleine schlichte Grafik über die Entwicklung der vorgetriebenen Tunnelkilometer seit Januar 2014:
Dass die Teilnehmer des Lenkungskreises mit so einer äußerst knappen Information über Europas größte Tunnel-Baustelle zufrieden gestellt werden sollen, überrascht. Auch wenn es sich offiziell um ein Bauprojekt der Bahn handelt, dessen 2,3 Milliarden Mehrkosten die Projektpartner vor dem vereinbarten Kostendeckel bislang nicht bereit sind zu tragen. Als einzige Information zur Einhaltung des Zeitplans findet sich in den Unterlagen der folgende Überblick, in dem dieser von der Bahn mit einem Ampelsystem nach den Kriterien grün= „positiver Trend“, rot „negativer Trend“ und gelb= „unverändert“ eingeschätzt wird:
Doch wie sieht es mit dem aktuellen Baufortschritt im Tunnelbau bei Stuttgart 21 aus? Von daher lohnt es wieder einmal einen näheren Blick auf den Vortriebsstand in den einzelnen Tunnelstrecken zu werfen, die wir haben anhand der wöchentlich veröffentlichten Vortriebsstände in zwei Dateien (bis September 2015 / ab Oktober 2015) zusammengestellt haben. Die Zäsur war jetzt notwendig, nachdem die Bahn auf Nachfrage der Stuttgarter Zeitung Mitte Oktober nachgerechnet und noch mehr als 900 Meter Schächte, Stollen, Verbindungsbauwerke und Tunnel in offener Bauweise auf einen Schlag mit in die Statistik aufgenommen hatte. Die StZ (hier) hatte darüber berichtet.
(In der Statistik der Bahn gibt es Ungereimtheiten: Unklar ist, warum die Bahn auf ihrer Webseite für Stuttgart 21 59.090 Tunnelkilometer ausweist und in den Folien, wie z.B. anlässlich des Lenkungskreises, nur von 57 Kilometern die Rede ist. Auch stimmt seit zwei Wochen die Addition der Tunnelvortriebsstände nicht mit der gemeldeten Gesamtsumme überein. Für die neu hinzugekommenen Tunnelteilstrecken fehlen Soll-Zahlen.)
Mit dieser Addition erreichte die Bahn im Oktober auf einen Schlag die eigentlich für Dezember 2015 anvisierte 10 Kilometer-Marke. Doch ist das wirklich als Erfolg zu verbuchen, als den ihn die Bahn verkauft? Der Vortriebstand zum 2.11.2015 zeigt, dass gerade einmal knapp 18% der Gesamtstrecke von 59 Kilometer vorgetrieben wurde und der Stand in den einzelnen Tunnelstrecken bzw. Tunnelröhren sehr weit auseinander klafft:
Bahnvorstand Volker Kefer hatte noch im April vor dem Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages die Aussage getroffen, dass ein monatlicher Tunnelvortrieb von rund 1.000 Meter monatlich für die Einhaltung der Inbetriebnahme von Stuttgart 21 zum Ende des Jahres 2021 ausreichend sei. Wir haben bereits darüber berichtet, dass diese Rechnung hinkt und im Juli 2015 in einem längeren Beitrag über den Baufortschritt beim Tunnelbau von Stuttgart 21 veröffentlicht. Akuellere Zahlen finden Sie in den Berichten für August und September 2015. Dennoch lohnt sich wieder ein Blick in die monatlichen Zahlen. Sie zeigen, dass bis auf den Oktober 2015, als über 900 Meter Stollen, Schächte und Verbindungsbauwerke nacherfasst wurden, in keinem Monat die 1.000 Meter-Marke geknackt wurde:
Mehr als 48 Kilometer Tunnel müssen noch vorgetrieben werden, allein mehr als 37 Kilometer in bergmännischer Bauweise. Auf Basis des aktuellen monatlichen Baufortschritts im Jahr 2015 hochgerechnet, würde die Bahn allein für den Vortrieb der dieser Tunnelstrecken ohne die für den Rohbau notwendigen Verschalungsarbeiten noch rund 6,4 Jahre benötigen. Danach ist noch der eisenbahntechnische Innenausbau und der einjährige Testbetrieb erforderlich. Es werden zwar noch weitere Tunnelbaustellen dazu kommen, wie z.B. der ab Januar 2016 geplante Vortrieb unter dem Kernerviertel Richtung Wangen. Dennoch, es ist nach dem derzeitigen Vortriebsstand kaum wahrscheinlich, dass bis spätestens Mitte 2019 der Rohbau aller bergmännischen Strecken bei Stuttgart 21 hergestellt werden kann.
Deutlich besser sieht die Hochrechnung für den maschinellen Vortrieb aus. Danach würde der maschinelle Vortrieb der verbleibenden 11,4 Kilometer nur rund 2,5 Jahre, ohne die eisenbahntechnischen Ausrüstung und der einjährige Testbetrieb, in Anspruch nehmen. Nicht eingerechnet sind jedoch die Zeiten, in denen die die Tunnelvortriebsmaschine wegen des bergmännischen Zwischenstücks zurückgezogen, neu aufgebaut und in der Wendekaverne unter der Gerokstraße gewendet werden muss. Ob die Maschine dann in der zweiten Schildfahrt vom Filderportal durchgängig Richtung Innenstadt durchfahren kann, hängt auch von dem Baufortschritt des 1,1 Kilometer langen bergmännischen Zwischenteils unter ab, der wahrscheinlich erst unter Degerloch gegraben werden kann, wenn die Maschine aus der Oströhre zrückgezogen wurde.
Von daher begleiten wir von den Anwohner-Netzwerken weiterhin das Projekt kritisch und fragen uns, wie die Bahn die Inbetriebnahme von Stuttgart 21 zum Ende des Jahres 2021 erreichen will. „Gegensteuerungsmaßnahmen“ findet man in den Lenkungskreisunterlagen ausgerechnet nur für den Abschnitt des PFA 1.5., dessen Bauwerke am meisten fortgeschritten sind. Wie schon gestern berichtet, enthält die Präsentation vor dem Gremium beispielsweise keine Informationen zum Baustand und den „Gegensteuerungsmaßnahmen“ im Abschnitt PFA 1.6a/Obertürkheimer Tunnel, bei dem nach zwei Jahre Bauzeit gerade einmal 11 % vorgetrieben wurde.
Ein“deutlicher Baufortschritt in allen Bereichen“ beim Tunnelbau für Stuttgart 21 ist also entgegen der Aussage der Folie aus dem Lenkungskreis nicht erkennbar. Wir bleiben daher weiterhin bei unserer Einschätzung, dass sich die vom Tunnelbau für Stuttgart 21 betroffenen Anwohner in einzelnen Stadtteilen noch auf deutlich mehr Jahre der Belastung einstellen müssen.