Erstmals seit drei Jahren fand letzten Mittwoch auf Einladung der städtischen Bürgerbeauftragten Alice Kaiser in Kooperation mit der Bezirksvorsteherin Beate Dietrich wieder eine Informationsveranstaltung für die vom S21-Tunnelbau betroffenen Anwohner in Stuttgart-Wangen statt. Trotz der zeitgleichen Vorstellung der Landtagsabgeordneten war die Turnhalle der Wilhelm-Schule gut gefüllt. Dies liegt sicherlich an den starken Beeinträchtigungen durch die Tunnelvortriebsarbeiten in Wangen, die seit Monaten den Wangener Anwohnern den Schlaf rauben. Die Stuttgarter Zeitung berichtete (hier) über die Veranstaltung. Auf der Parkschützerseite findet man einen Twitter-Weet.
Nach der Begrüßung durch die Bezirksvorsteherin von Wangen, Beate Dietrich, und dem Geschäftsführer der Projektgesellschaft Stuttgart-Ulm GmbH (PSU), Peter Sturm, gaben der Abschnittsleiter für die PFAs 1.2. und 1.6a, Günther Osthoff, und Benjamin Denk eine Übersicht und einen Ausblick auf die im nächsten Jahr geplanten Vortriebsarbeiten. Die Präsentation finden Sie hier. Das Netzwerk Wangen/Untertürkheim hatte im Vorfeld der Veranstaltung einen Fragenkatalog erstellt. Angesichts der vielen Themen wurde vereinbart, dass die Fragen zu den Gestattungsverträgen und Unterfahrung in einem separaten Termin zwischen den Netzwerken und der PSU durchgesprochen werden.
Auch dieses Mal waren wieder jegliche Foto-,Film und Tonaufnahmen zur Wahrung der Persönlichkeitsrechte nicht zugelassen. Wir sind daher wieder gezwungen, die Inhalte der Veranstaltung zusammenzufassen:
- Aktueller Tunnelvortriebsstand in Wangen
- Rund zwei Jahre nach der feierlichen Tunneltaufe am Zwischenangriff Wangen im Dezember 2013 sind rund 1.800 Meter der rund 11,8 Kilometer bergmännischer Tunnel in dem Abschnitt PFA 1.6a vorgetrieben. Wegen unerwartet hohem Wasseraufkommen ruhten die Vortriebsarbeiten am Zwischenangriff Wangen weitgehend bis im April 2015 bis die Planänderung zur Tieferlegung der Tunnel um 4 Meter vom Eisenbahn-Bundesamt (EBA) genehmigt wurden.
- Auf der Anwohnerveranstaltung wurde auch ein tagesaktueller Stand des Vortriebsstand präsentiert. Danach hat die Weströhre (Achse 62) Richtung Hauptbahnhof die Jägerhalde und die nachlaufende Oströhre (Achse 61) den Bereich der Nähterstraße erreicht:
- Überraschenderweise sind die ersten 140 der 190 Meter langen Tunnelröhre (62) 19 Meter tief unter dem Neckar vorgetrieben. Anscheinend ohne die geologischen Probleme, die kritische Ingenieure wegen der Mineralwasseraufkommen befürchtet haben. Auch von dem vorübergehenden Baustopp, über den die StZ am 9.Februar berichtet hatte, war auf der Veranstaltung nicht die Rede.
- Die vom Tunnelbau betroffenen Anwohner sollen alle 14 Tage eine grafische Übersicht über den Tunnelvortrieb erhalten. Ebenfalls ist in Kürze die Veröffentlichung dieser grafischen Darstellung des Tunnelvortriebs im Internet zusätzlich zu den Vortriebsständen in Metern geplant.
2. Geplanter Tunnelvortrieb im nächsten Jahr
- Eigentlich sollten nach die Vortriebsarbeiten vom Zwischenangriff Wangen aus nach dem zuletzt präsentierten Zeitplänen bereits im letzten Jahr fertig gestellt sein.
- Nach Aussage des Abschnittsleiters Günther Osthoff sollen bis Ende des Jahres die Weströhre zwischen Wangen und dem Hauptbahnhof mit 3,4 Kilometer und die beiden Röhren zwischen Wangen und Obertürkheim mit jeweils 1,8 Kilometer bergmännisch hergestellt werden. Der Vortrieb der zweiten Röhre (61) Richtung Hauptbahnhof soll intensiviert werden. Ein Zeitplan wurde allerdings nicht präsentiert. Auch auf dem Schaubild (S.9), an dem der geplante Vortrieb erläutert wurde, findet sich kein Hinweis, an dem die Projektgesellschaft in einem Jahr wieder gemessen werden kann.
- Dies ist allerdings sehr optimistisch geplant. Entlang der geplanten beiden jeweils 3,4 km langen Tunnelröhren zwischen Wangen und dem Verzweigungsbauwerk Süd unterhalb des Kernerviertels waren nach dem zuletzt veröffentlichten Zahlen (8.Februar 2016) von Wangen aus gerade einmal 323 Meter (Oströhre/ 61) und 583 Meter (Weströhre/62) vorgetrieben. Der Tunnelvortrieb vom Verzweigungsbauwerk unterhalb des Kernerviertels ist erst Anfang Februar angelaufen. Um die 2,8 Kilometer lange Strecke für die Weströhre in einem Jahreszeitraum zu realisieren, müssten sowohl vom Verzweigungsbauwerk als auch von Wangen aus jeweils täglich mindestens 4 Meter pro Tag aufgefahren werden. Ein Wert, den die Mineure im geologisch schwierigen Untergrund bislang nie erreicht haben. Maximal wurden bislang 2-2,5 Meter am Tag geschafft, wegen der geologischen Verhältnisse auch deutlich weniger. Zumal nach Aussage des Abschnittsleiters in Wangen auch nur gleichzeitig an drei Vortrieben gearbeitet werden kann. Auf Basis der bisherigen Zahlen würde die Bahn für diesen beiden Tunnelröhren zwischen Wangen und dem Verzweigungsbauwerk Süd statt einem Jahr mindestens zwei Jahre benötigen.
- Ebenfalls sollen in diesem Jahr bis Dezember die beiden jeweils 1,8 Kilometer langen Tunnelröhren unter dem Neckar Richtung Obertürkheim vorgetrieben werden. Auch hier stellt sich die Frage, wie die Bahn dies schaffen will. Täglich müssten von Wangen aus 4-5 Meter realisiert werden. In Obertürkheim läuft noch eine Planänderung für die geänderte Bauweise des Trogs, deren Genehmigung laut den Lenkungskreisunterlagen erst im August 2016 erwartet wird.
3. Baulogistik
- Derzeit werden 3.000 bis 4.500 t Aushub mit ca. 170 Lkw-Fahrten (+ Leerfahrten) täglich abtransportiert.Zusätzlich kommen noch ca. 40 Lkw-Fahrten (+ Leerfahrten) für die Anlieferung des Baumaterials hinzu. Diese zahlen lägen deutlich unter denen aus der Planfeststellung (bis zu 500 Lkws).
- Nach Beschwerden der Anwohner haben die Fahrer nochmals eine Anweisung erhalten, die Fahrroute über die Ulmerstraße zur B10 einzuhalten. Falls doch Schleichwege über die Wangener Wohngebiete oder die Wagenburgstraße genommen werden, empfielt Benjamin Denk die Nummern aufschreiben oder dies mit Fotos dokumentieren. Die PSU könnte nicht alle Fahrer kontrollieren.
- Wegen der im Bezirksbeirat bemängelten widerrechtlich am Aldi geparkten Lkws wurde eine Zwischenpufferfläche am Großmarkt eingerichtet, bei der sich die Fahrer eine Nummer abholen müssen. Ohne Nummer werden die Lkws am ZA Wangen zurückgeschickt.
4. Geologie
- Die geologische Situation in den beiden Tunnelröhren in Wangen ist höchst unterschiedlich. In der Oströhre (61) tritt verstärkt Wasser bis zu 4 l/s auf und ist daher im Rückstand. Zum Vergleich: im Juni 2014 musste die Bahn Probleme bei den Vortriebsarbeiten in Wangen einräumen, das mit 3 l/s deutlich mehr Wasser asl erwaret angetroffen wurde. Daraufhin wurden die Tunnelgradienten um 4 Meter tiefer gelegt. Dennoch ist das Wasservorkommen in der Oströhre weiterhin so hoch bzw. sogar noch mit 4 l/s etwas höher.
- In der Weströhre erfolgt der Vortrieb im trockenen Gipskeuper. Aktuell seien die Vortriebsarbeiten unterhalb der Jägerhalde auf einen Anhydritanteil von 27% gestoßen. Der Anhydrit kann vom Gips nur durch tägliche Laboruntersuchungen an der Universität ermittelt werden.
- Entlang der Tunnelstrecken im anhydritführenden Gipskeuper werden die Wandstärken auf einen Meter ausgelegt und zur Verhinderung von Tunnelwasser Abdichtungen vorgenommen. Günther Osthoff erklärte: „Wir werden peinlichst darauf achten, dass im Anhydrit niemand eine Wasserflasche ausleert!“. Anwohner kritisierten, dass auch bei aktuellen Tunnelbauten, wie dem Engelbergtunnel, der Anhydrit weiter quillt, obwohl die Tunnelwände um mehrere Meter verstärkt wurden. Wir hatten in einem Beitrag über die Risiken des Anhydrits berichtet. Peter Sturm wehrte ab und wies daraufhin, dass bei diesem Tunnel bereits im Bau verhängnisvolle Fehler gemacht wurden. Er erwähnte allerdings nicht, dass fast bei allen Tunnel im quellfähigem Anhydrit Probleme auftreten.
- Anhydrit wird entlang des Obertürkheimer Tunnels in mehreren großen Abschnitten (pro Tunnelröhre insgesamt ca. 2,2 km) unter der Uhlandshöhe/Gänsheide und Gablenberg erwartet:
- Trotz des Anhydritvorkommens erklärte der Abschnittsleiter Günther Osthoff wird die Sprengintensität nicht reduziert. Auf der Anwohnerveranstaltung für den Stuttgarter Osten erklärte sein Vorgänger noch, dass in Abschnitten mit Anhydrit eine „bergschonernderes“ Verfahren eingesetzt werden würde.
- In der Veranstaltung kam die Frage auf, wie der Tunnelbau der zweiten, kreuzenden Röhre unter dem Neckar in 8 Meter Tiefe im weichen Neckarkies gebaut werden soll. Hier kann laut dem Abschnittsleiter Entwarnung gegeben werden. Neckarkies sei hier nicht anzutreffen.
- Allerdings ist den Mineuren die bestehende Gefahr bei der Neckarunterquerung durch einen Mineralwasserauftritt bewusst. Täglich werden Messungen der Wasserzutritte in den Röhren auf Mineralwassergehalt durchgeführt. Mineralwasser wurde bislang nicht festgestellt. Ansonsten müsste der Vortrieb vorübergehend eingestellt und Gegensteuerungsmaßnahmen eingeleitet werden.
- In der Nähe der Tunnelröhren befindet sich unter dem Wohngebiet der Rübezahlstollen. Es seinen aber keine Auswirkungen auf den Tunnelbau zu erwarten, da der Stollen außerhalb des Einwirkbereichs liegt.
5. Sprengungen / Immissionen
- Zwischen 6-22 Uhr wird weiterhin 3 Mal im Abstand von 4-5 Stunden in jeder der drei sich im Bau befindlichen Röhren gesprengt. Die Sprengungen werden seit Februar im Internet und per Twitter angekündigt.
- Die Bahn versucht weiterhin von der Landesbergdirektion eine Ausnahmegenehmigung für die Sprengungen im Nachtzeitraum zu erhalten. Dazu hat der Sprengsachverständige zwei Gutachten über die gesundheitlichen Belastungen der Erschütterungen bei den Sprengungen im Nachtzeitraum erstellt. Der Prüfungsprozess läuft noch. Die Bahn rechnet mit einer Genehmigung bis Ende Februar. Allerdings berichtet die StZ, dass sich die Entscheidung wegen Prüfung der Gutachten noch hinzieht.
- Anwohner erklärten auf der Veranstaltung, dass auch der Sprengvortrieb für sie im Nachtzeitraum eine unzumutbare Belastung darstelle.
- Die Wangener beklagen sich weiterhin über die hohen Erschütterungen, die durch die Sprengungen ausgelöst werden. Benjamin Denk erklärt, dass die Werte der DIN 4150 einhalten werden.
- Der Immissionsschutzbeauftragte Peter Fritz räumte auf Nachfrage ein, dass der mit den Sprengungen verbundene sekundäre Luftschall bislang nicht gemessen wurde. Nach Aussage des Rechtsanwalts der Bahn, Dr. Peter Schütz, würden Überschreitungen der sekundären Luftschallimmissionen bei Sprengungen nicht zur Reduzierung der Anzahl der Sprengungen führen. Die DIN 4150 würde eine entsprechende Auflage nicht vorsehen.
- Benjamin Denk räumte auf Nachfrage ein, dass die Belastungen durch Sprengungen noch lange anhalten werden. Simulationsversuche hätten ergeben, dass die Sprengungen auch bei einer höheren Überdeckung an der Jägerhalde noch bis zu 250 Meter im Umkreis deutlich spürbar sind.
- Zahlreiche Anwohner kritisierten auf der Veranstaltung, dass trotz der monatelangen extremen Belastungen durch die Sprengungen und den nächtlichen Meißelvortrieb weiterhin nur Hotelgutscheine ausgegeben werden. Hotels als Ausweichquartier über so viele Monate seien nicht zumutbar und würden von vielen Familien nicht in Anspruch genommen. Die sei ein „Phantomangebot“. Sabine Reichert, Bezirksbeirätin in Untertürkheim und Mitglied des Netzwerks Wangen/Untertürkheim wies daraufhin, dass der Planfeststellungsbescheid Entschädigungen vorsieht, falls aktive und passive Schallschutzmaßnahmen nicht greifen. Mit den Entschädigungen könnten die Anwohner entscheiden, ob sie sich für ein paar Monate ein festes Ersatzquartier suchen. Peter Schütz, entgegnete, mit dem Eisenbahn-Bundesamt sei abgeklärt, dass die Hotelgutscheine einen passiven Lärmschutz ersetzen würden. Diese Aussage, die klar der Nebenauflage aus der Planfeststellung widerspricht, traf auf völliges Unverständnis bei den betroffenen Anwohnern in Wangen. Zugewiesene Hotels, in denen die Familien abends mit „Sack und Pack“ über Monate umziehen müssten, sind mit einem Lärmschutz nicht zu vergleichen.
- Ulrich Ebert von den Juristen zu Stuttgart 21 hakt erneut wegen Einhaltung des Sonn- und Feiertagsgesetzes nach, das an diesen Tagen ohne eine Ausnahmegenehmigung der Landesbehörden(Innenministerium) keine Belastungen Bauarbeiten zulasse. Peter Schütz argumentiert wieder mit dem Hinweis, dass die Genehmigung für die Sonn- und Feiertagsarbeit in der Planfeststellung auch die Bauarbeiten an diesen geschützten Tagen abgedeckt sei. Dies sei mit den städtischen Behörden so vereinbart.
- Wie am ZA Prag lehnt die Bahn auch Staub- und Luftschadstoffmessungen aus der Tunnelbewetterung am Zwischenangriff Ulmerstraße ab. Sie argumentiert damit, dass die Luftbelastung für die Mineure vom Arbeitsschutz freigegeben wäre.
- Die Messberichte zu Lärm und Erschütterungen in Wangen sind jetzt seit neustem auf der Webseite der Projektgesellschaft (unten) eingestellt.
6. Unterfahrung
- So sehr das harte Gestein die Wangener durch die Meißel- und Sprengarbeiten belastet, bei den Senkungen hat dies sich positiv ausgewirkt. So seien bis jetzt Senkungen an den Gebäuden trotz der geringen Unterfahrungstiefe von maximal 0,5 cm aufgetreten. Prognostiziert waren deutlich höhere Werte. Nennenswerte Schäden seien, so Peter Sturm, wie auch entlang der bislang realisierten 12-km Tunnelstrecken für Stuttgart 21, nicht aufgetreten. (Wir möchten jedoch in diesem Zusammenhang an die Risse am Verwaltungsgebäude der Landeswasserversorgung erinnern.)
- Die Gebäude werden durch ein Messprogramm überwacht, solange noch Veränderungen auftreten. Jeden Tag mehrere hundert Messungen an Oberflächenmesspunkten und an Gebäudemesspunkten. Allerdings weist eine Anwohnerin hin, dass die Messungen häufig wegen Abwesenheiten der Eigentümer nicht regelmäßig durchgeführt werden können. Es gäbe auch keine Absprache über die Ablesezeiten.
- Schäden sollen mit einem Formular gemeldet werden, das auf der Webseite der Projektgesellschaft zu finden ist. Peter Sturm sichert zu, dass die Bauschäden, die im Zusammenhang mit den Tunnelvortriebsarbeiten auftreten, zu 100% übernommen werden.
- Nur im Falle eines Schadens sichert die Projektgesellschaft zu, dass der Eigentümer die Messdaten der Vortriebsarbeiten lesbar aufbereitet erhalten wird. Dies sei wegen der Datenmengen aufwendig zusammenzustellen.
- Anwohner weisen daraufhin, dass sich Schäden durch Setzungen auch erst nach dem eigentlichen Vortrieb einstellen können.
- Eine Anwohnerin im Lindenschulviertel in Untertürkheim hakte nach, wann die Projektgesellschaft auf sie wegen der Gestattungsverträge zukommen werde. Schließlich soll angesichts der besonderen Situation in Untertürkheim (sehr geringe Unterfahrungstiefe im weichen Neckarkies) genügend Zeit für Verhandlungen bereit stehen. Peter Sturm erklärte, dass die PSU auf die Eigentümer 3-6 Monate vor Baubeginn zukommen werden.
- Eine weitere Anwohnerin fragte wegen der Erschütterungs- und Lärmbelastung nach, die beim Betrieb der Tunnel unter ihrem Haus auftreten werden. Angesichts der Tatsache, dass sich der langjährige Gutachter und Immissionsschutzbeauftragte Peter Fritz bereits bei den Lärmgutachten beim Bau verrechnet habe, sei sie kritisch. Sie hakte wegen einem Masse-Federsystem zur Verminderung der Belastung nach. Peter Schütz erklärte, dass sie Anspruch auf eine Entschädigung hätte, wenn mit den Tunnelbetrieb unzumutbare Belastungen verbunden seien.