Lärmmessungen bei Stuttgart 21: Messkonzepte und Messrealität am Beispiel des Wartbergs

Die Anwohner des Wartbergs wurden nach Protesten über die mangelnden Informationen von der Projektgesellschaft Stuttgart-Ulm GmbH in das Turmforum zu Gesprächen im kleinen Kreis eingeladen. Die Presse war nicht zugelassen. Dennoch berichteten die beiden Stuttgarter Zeitungen in ihrem Innenstadtteil  letzten Freitag darüber (hier). In den Gesprächen kritisierten die Anwohner am Wartberg weiterhin die völlig unzureichende Informationspolitik der Bahn. Das Gutachten zum passiven Schallschutz, nach dem die wenigsten Anwohner am Wartberg Anspruch auf passiven Schallschutz haben, ist immer noch unter Verschluss. Die Eigentümer sollen jetzt zwar die Prognosen für ihre Häuser bzw. Fassaden erhalten. Unklar sind die Grundlagen der Ermittlung der Lärmprognose.

Der anwesende Immissionsschutzbeauftragte Peter Fritz konnte auch keine Auskunft über die tatsächlich auftretenden Lärmpegel der Baustelle geben, die seit Ende November in Betrieb ist. Und warum ? Weil er das von ihm entwickelte Messkonzept zum PFA 1.5. vom 14.11.2014 (hier) schlicht bis heute nicht umgesetzt und keine Messungen am Wartberg durchgeführt hat. Von daher lohnt es sich einen etwas ausführlichen Blick in dieses Messkonzept zu werfen.

Das Messkonzept sieht vor, dass am Zwischenangriff Prag anhand von Schallimmissionsmessungen  exemplarisch an einem besonders exponierten Wohngebäude (z.B. am Gebäude Gudrunweg 7) alle 4 bis 6 Wochen für einen Zeitraum von 7 Tagen Messungen durchzuführen sind. Allerdings sollen die gemessenen Pegel dann regelwidrig über diese Kalenderwoche hin gemittelt werden. Auch zielen die Messergebnisse nicht darauf ab, die Richtwerte der AVV-Baulärm einzuhalten. Sie sollen nur noch zu dokumentieren, ob die in den schalltechnischen Detailgutachten zum Teil deutlich höheren prognostizierten Lärmpegel von den Baufirmen unter- bzw. überschritten werden. Das Infobündnis Zukunft Schiene – obere Neckarvororte – hatte u.a. diese nicht mit der aktuellen Rechtslage zu vereinbarende Vorgehensweise am Beispiel des PFA 1.6a in einer Petition an den Deutschen Bundestag beklagt.  Das Messkonzept des PFA 1.5. sieht daneben vor, dass bei Beschwerden kurzfristige Messungen durchzuführen sind: „Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass bei ganz konkreten Nachbarschaftsbeschwerden zur Klärung der faktischen Grundlage für die vorgetragene Beschwerde die Durchführung beobachteter Messungen erforderlich ist. Die zur Beurteilung der Sachlage zu ermittelnden Beurteilungsgrößen sind dann situationsbezogen auf die am Messtag stattfindenden Bauaktivitäten und auf die hierzu erhobenen Geräuschimmissionen abzustellen.

Ein weiterer Blick auf die Homepage des Kommunikationsbüros über die bislang erfolgten Messungen (hier) zeigt, dass trotz der seit mehr als 2 1/2 Monaten laufenden Baustelle bis heute keine einzige Messung am Wartberg gemacht wurde. Lediglich am Dornbusch, dem gegenüberliegenden und 120 Meter vom Zwischenangriff entfernten Wohngebiet, wurde zu Beginn der Bauarbeiten am 02.Dezember 2014 tagsüber zwei kurze Messungen (hier) von jeweils 30 Minuten (!) durchgeführt.  Die Messungen ergaben nach Abzug eines Zeitabschlags von 5 db(A) einen relevanten Beurteilungspegel für den Dornbusch von 56 dB (A).  Zum Vergleich:  Der Richtwert nach der AVV-Baulärm für ein überwiegendes Wohngebiet beträgt tagsüber zwischen 7-20 Uhr 55 dB(A) und im Nachtzeitraum zwischen 20 und 7 Uhr 40 dB(A).

Statt den im Messkonzept vorgegebenen 7-Tageszeitraum  führte der Immissionsschutzbeauftragte, der für die Überwachung des Baulärms zuständig ist,  bislang für den Wartberg keine einzige Lärmmessung und für den Dornbusch nur insgesamt 1 Stunde (!) an einem Tag und keine einzige Minute  im besonders sensiblen Nachtzeitraum durch! Dabei laufen die Baulogistikaktivitäten am Zwischenangriff Prag und der Logistikfläche rund um die Uhr und die Lärmbelastungen können je nach Baulogistikaktivität schwanken. Zudem benötigte er bzw. sein Büro für die Erstellung des Messberichts, der lediglich eine Stunde Messdaten dokumentierte, fast zwei Monate. Eine umfassende und zeitnahe Lärmüberwachung sieht anders aus.

Der langjährige Gutachter der Bahn, der von der Projektgesellschaft zugleich als „unabhängiger“ Immissionsschutzbeauftragter für Lärm und Erschütterungen bestellt wurde, setzt definitiv nicht die Auflagen aus den mit dem Eisenbahn-Bundesamt abgestimmten Messkonzepten um und wird so seiner Aufgabe nicht gerecht. Daher war er auf den Informationsveranstaltungen auch nicht in der Lage, die Fragen der Anwohner des Wartbergs nach den tatsächlichen Lärmbelastungen zu beantworten. Doch die unzureichenden Messungen, die auch in allen anderen Stadtteilen so laufen bzw. von der Bahn teilweise unter Verschluss gehalten werden, interessieren anscheinend weder das Eisenbahn-Bundesamt als Aufsichtsbehörde (wie jüngst auch in Wangen) noch die Stadt Stuttgart, die kategorisch jegliche Verantwortung  für ihre Bürger in Sachen Immissionsschutz beim Großprojekt Stuttgart 21 ablehnt. Obwohl die Bauarbeiten erst angelaufen sind, sind damit die betroffenen Anwohner der größten Baustelle Europas, salopp formuliert, die „Gelackmeierten“. Dies ist nicht zu akzeptieren.

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