Fast auf den Tag vor zwei Jahren begannen offiziell die Bauarbeiten am geplanten „Tiefbahnhof“ für Stuttgart 21. Über den mehr als schleppenden Baufortschritt, der allein im Startbaufeld bereits eineinhalb Jahre hinterher hinkt, haben wir mehrfach berichtet. Zuletzt in unserem Beitrag vom Juli. Bis ist nicht einmal eine Bodenplatte gegossen; die Grundsteinlegung im Startbaufeld 16 ist jetzt für September angekündigt. Ausführliche Informationen zum aktuellen Stand und den „Herausforderungen“ bei den verschiedenen Baustellen des „Tiefbahnhofs“ sowie das Umstiegskonzept des Aktionsbündnis finden Sie im Video über die alternative, zweistündige Baustellenführung der Ingenieure vom letzten Mittwoch.
Zwei Jahre nach Baubeginn drosseln weiterhin eine hohe Anzahl von Planänderungen, sich hinziehende Baufreigaben durch die vom Eisenbahn-Bundesamt beauftragten Sachverständigen und Änderungen in der Bauweise das Bautempo. Zeitweise sieht man, bis auf die Bauarbeiten der SSB, nur wenige Aktivitäten im Herzen von Europas größter Baustelle. Die Anwohner des Kernerviertels und Killesberg mit direkten Blick auf das riesige Baufeld bekommen dies quasi vor ihrer Haustüre mit. Vom „bestgeplanten Projekt“ der Bahn ist längst nicht mehr die Rede. Die Schwierigkeiten, vor denen Kritiker gewarnt haben, sind leider eingetroffen. Die Bahn kämpft auf der Baustelle mit der Geologie des Baugrundes, dem immer noch nicht abschließend genehmigten Brandschutz- und Entrauchungskonzept und mit der sehr anspruchsvollen Architektur des „Tiefbahnhofs“.
Welchen Änderungsbedarf die Ingenieure beim Bau von Stuttgart 21 haben, die mit den mehr als 10-15 Jahre alten Plänen ihrer Vorvorvorgänger arbeiten müssen, zeigt beispielsweise die Auflistung der bereits vom Eisenbahn-Bundesamt freigegebenen dreizehn Planänderungen in dem den „Tiefbahnhof“ betreffenden Abschnitt PFA 1.1. Darunter grundlegende Planänderungen wie beispielsweise die mehr als Verdoppelung der Grundwasserentnahmemenge. Aktuell sind noch weitere Planänderungsverfahren am Laufen, darunter für die Verlegung der Fluchtreppenhäuser und das Entrauchungskonzept des Tiefbahnhofs. Hier die Folie mit den aktuell laufenden Verfahren im PFA 1.1., die im Juni auf dem letzten Lenkungskreis präsentiert wurde:
Laut der aktuellen Präsentation sind für alle S21-Planfeststellungsabschnitte derzeit 16 Planänderungsverfahren beim EBA anhängig und weitere 22 Verfahren in Vorbereitung. Entgegen den letzten Präsentationen listet die Bahn nicht mehr auf, welche konkreten Planänderungsverfahren anstehen. Dass auch ein paar darunter den „Tiefbahnhof“ betreffen, ist wahrscheinlich.
Das hat Auswirkungen auf die Kosten für den Bau des „Tiefbahnhofs“. Nicht vereinbarte Leistungen oder überraschende Erschwernisse müssen als sogenannte Nachträge den Baufirmen vergütet werden. Wie Jürgen Lauber in seinem Buch das „Deutsche BauUnwesen“ schreibt, gehören „gewisse Abweichungen während der Realisierung gehören zur Natur des Bauens. Es wird ja auch ein Unikat gebaut„. Doch Nachträge führen bei deutschen Großprojekten mittlerweile zur Kostenexplosion. Jürgen Lauber hat dies auch in einem Papier für Bürgerinitiativen anschaulich dargestellt.
Seit einer Vergaberechtsreform Mitte April 2016 müssen diese Nachträge bzw. Vertragsänderungen nach § 132 Abs.5 GWB im Europäischen Amtsblatt bekannt gemacht werden. Diese gesetzliche Auflage aus dem Vergaberecht bietet nebenbei auch der Öffentlichkeit Einblicke in die Nachträge bei Bauprojekten, die dem öffentlichen Vergaberecht unterliegen.
Wir haben uns einmal die Mühe gemacht und die Nachträge zusammengestellt, die seit der Vergabereform Mitte April 2016 zum Auftrag an die Ed. Züblin GmbH für den Bau des „Tiefbahnhofs“, der Düker und Kanäle veröffentlicht wurden. Für alle am Baugeschehen von Stuttgart 21 Interessierte bietet die Liste doch einiges Überraschendes. Einige Nachträge resultieren aus Planungsdefiziten, wie z.B. der S-Bahn-Umbau beim Hbf. und den Abstimmungen mit dem U-Bahnbau der U12. Die im EU-Amblatt von der Projektgesellschaft bekanntgegebenen Zahlen sind allerdings mit Vorsicht zu behandeln:
- Nachtragsaufträge werden wiederholt nur mit einem symbolischen Euro gemeldet.
- Die um die Nachträge erhöhten Auftragsvolumina sind nicht fortlaufend. Es gibt Lücken und unerklärliche Sprünge , die nicht mit Aufträgen dokumentiert sind. Beispielsweise zwischen dem 11. und 30.5. mit 261.620 Euro, zwischen dem 24. und 30.6 um 1,852 Mill. Euro, zwischen dem 30.6. und 13.7. um rund 545.000 Euro und zwischen 2. und 3.8 um als 13,6 Millionen Euro.
- Auftragsvolumen vor und nach der Vertragsänderung werden in gleicher Höhe bei mehreren Aufträgen angegeben, beispielsweise am 3.August bei drei Vertragsänderungen mit jeweils einem Nachtrag von 100.000 Euro.
Dennoch bieten die Zahlen vor und nach den Vertragsänderungen zumindest einen Anhaltspunkt, in welcher Größenordnung sich das Auftragsvolumen der Ed. Züblin GmbH mindestens gesteigert hat.
Züblin hatte im Jahr 2012 den Zuschlag für den Bau des Tiefbahnhofs mit den Dükern zum Auftragsvolumen von 323.444.395,34 Euro (alle Zahlen ohne MwSt.) erhalten. Bei Bekanntmachung der ersten Vertragsänderung seit der Vergabereform am 11.5.2016 lag der Auftragswert für den Bau des Tiefbahnhofs wegen der seit Vertragsbeginn eingeräumten Nachträgen bereits bei 347.435.942,00 Euro, also fast 24 Millionen Euro darüber. Allein in den 12 Wochen ist die Auftragssumme auf 363.868.249,10 Euro um 16,43 Millionen angewachsen. Allerdings liegt die Summe der einzelnen Nachträge der veröffentlichten 30 (!) Vertragsänderungen mit rund 2,4 Millionen weit darunter. Die Steigerung des Auftragsvolumens von weiteren 14 Millionen ist aus den Bekanntmachungen der Vertragsänderungen/Nachträge nicht erklärbar.
Gegenüber der Auftragssumme bei Vertragsabschluss stieg das Auftragsvolumen der ED. Züblin GmbH gegenüber der letzten Meldung im EU-Amtsblatt um rund 40,42 Millionen Euro und damit um 12,5 % des ursprünglichen Auftragswertes. Dies hört sich gemessen am Gesamtauftragswert noch nicht viel an. Doch die Bauarbeiten für den „Tiefbahnhof“ sind immer noch nicht weit fortgeschritten und werden noch Jahre gehen. Es wird sicherlich nicht bei dieser Größenordnung bleiben. Auch die Vertragsverlängerung über 2018 hinaus wird die Frage nach der Verantwortlichkeit von Bauverzögerungen und der Übernahme von Mehrkosten nach sich ziehen.
Nur zum Vergleich: Die Stuttgarter Zeitungen haben heute zum Bau des Leuzetunnels einen Artikel und einen Kommentar veröffentlicht. Der Stuttgarter Baukonzern Wolff und Müller streitet sich bei einem Auftragswert von 41 Millionen Euro um ein Nachtragsvolumen von insgesamt 18 Millionen Euro, damit fast um einen branchenunüblichen Wert von 50%. Ob Züblin durch weitere Nachträge auch diese Größenordnung erreichen wird, wird sich zeigen. Wenn es jedoch in diesem Tempo weiter gehen wird, dann wäre eine Kostenexplosion beim Tiefbahnhof nicht abzuwenden. Die vom Aktionsbündnis beauftragten Münchner Verkehrsberater Vieregg-Rössler rechnen wegen der komplexe Architektur des „Tiefbahnhofs“ und der schwierigen Geologie des Baugrundes mit deutlichen Mehrkosten.
Die zentrale Frage ist, ob die Bahn ausreichende Reserven für Nachträge bei Stuttgart 21 reserviert hat bzw. noch ausreichende Reserven dafür besitzt. Dies haben die vom Aufsichtsrat der DB AG beauftragten Wirtschaftsprüfer der KPMG zu beurteilen. Doch diese Einschätzung wird, wie bereits berichtet, erst im Dezember vorliegen. Und ob die Kostenprognose des Bundesrechnungshofs zu Stuttgart 21, egal in welcher Größenordnung sie liegen wird, an die Öffentlichkeit gelangt, ist fraglich.
Im März 2013 präsentierte die Bahn im Lenkungskreis eine Folie, in der 730 Millionen Euro als Nachtragspuffer im vom Aufsichtsrat freigegebenen Finanzierungsrahmen von 6,526 Milliarden Euro aufgeführt sind. Doch laut dem Zeit-Artikel „Hohes Risiko“ vom 23.Juli 2013 attestierten Wirtschaftsprüfer Stuttgart 21 damals bereits ein hohes Kostenrisiko: „Die Bahn hat mögliche Nachforderungen von Auftragnehmern, wie sie bei Großprojekten üblich sind, in ihrer Kalkulation nicht ausreichend berücksichtigt. Ohne umfassende Maßnahmen rechnen die Prüfer mit einem im Vergleich zum „Gesamtwertumfang erheblichen Nachtragsvolumen“, also mit einer weiteren Kostenexplosion.“
Kein Wunder, dass die DB Projekt Stuttgart-Ulm GmbH derzeit für alle Planfeststellungsabschnitte von Stuttgart 21 eine Ingenieurstechnische Unterstützung im Bereich des Steuerungsmanagements mit folgender Aufgabenstellung sucht:
„Die Leistungen des Auftragnehmers ist die Unterstützung des Auftraggebers mit dem Ziel:
— Die vereinbarten Planungs- und Bauleistungen im Rahmen des vorgegebenen Budgets, der Termine und Qualitätsanforderungen unter Einhaltung der gesetzlichen und innerbetrieblichen Regelungen zu erbringen.
— Das Vorhaben unter möglichst geringen Beeinflussungen anderer Bauvorhaben bzw. des Bahnbetriebs zu realisieren.“