Projektgegner, kritische Geologen und betroffene Anwohner hatten immer wieder wegen des tückischen, quellfähigen Anhydrit-Gestein vor den Bau- und Betriebsrisiken des geplanten unterirdischen Bahnknotens gewarnt. Rund sechzehn der innerstädtischen zweiundvierig Tunnelkilometer für Stuttgart 21 sollen durch den Anhydrit verlaufen. Wir hatten mehrfach über das von der Bahn unterschätzte Risiko durch den quellfähigen Anhydrit berichtet, wie beispielsweise in „Bauarbeiten im quellfähigen Anhydrit: „Staufen warnt Stuttgart““ , „StN: Das unterirdische Gebirge hat seine eigenen Gesetze“ ,
„Zum neuen Bauverfahren im Anhydrit. Von Netzwerken 21 beauftragter Geologe warnte vor Gefahr des Wasserzutritts“ oder die Rede des Geologen Dr. Ralf Laternser „Dauerbaustelle Engelbergtunnel – und täglich grüßt der Anhydrid!“.
Einwände in den Planfeststellungs- und Klageverfahren wurden lediglich zu den Akten genommen. Auch in der Schlichtung hatte der junge Geologe Dr. Jakob Sierig gegen den renommierten Tunnelbauingenieur Prof. Walter Wittke (WBI) von vorne herein keine Chance. Als Sachverständiger beim Tunnelbau für Stuttgart 21 ist der „Tunnelbaupapst“ unfehlbar.
Dieses Dogma des Großprojekts galt bis Freitag. Erstmals hat ein von der Bahn selbst in Auftrag gegebenes, streng vertrauliches Gutachten beim Tunnelbau von fast 16 Kilometern in dem stark quellfähigem Anhydrit deutlich unterschätzte Risiken für den Tunnelbau und -betrieb sowie für die darüberliegenden Gebäude attestiert. Die Stuttgarter Zeitung (hier), Kontext (hier), der SWR (TV-Beitrag / Kommentar) und die Tagesschau (ab Min. 4:36) berichten am Freitag ausführlich darüber.
Verfasst wurde das Gutachten von der Frankfurter Wirschaftsprüfungsgesellschaft KPMG und dem schweizer Ingenieurbüro Ernst, Basler & Partner. Das Gutachten stützt sich laut StZ auf „die wissenschaftlichen Erkenntnisse eines der weltweit führenden Experten, Professor Georgios Anagnostou von der Universität ETH in Zürich. Der Fachmann für Geotechnik hat bei vielen großen Tunnelbauwerken wie dem Gotthard-Basistunnel in der Schweiz mitgewirkt“. Die Stuttgarter Zeitung berichtet in einem sehr empfehlenswerten Artikel sehr ausführlich darüber. Wir zitieren wegen der Relevanz dieser Meldung ausnahmsweise einen größeren Abschnitt. Die StZ schreibt u.a.:
- „Als „kritisch“ stufen die Experten nur 1,26 km ein, davon allein 950 Meter beim Tunnel Feuerbach. Dort liegen die Anhydrit-Schichten in der unteren Hälfte der Tunnelquerschnitte, was Quellungen besonders problematisch macht.“
- „Nach Einschätzung der externen Gutachter „könnten mögliche Schäden an den Tunnelbauten, die auf mehr als 15 Kilometern durch problematische Anhydrit-Schichten führen sollen, im Extremfall zu teuren Sanierungen und Terminverzögerungen von bis zu drei Jahren führen. Dann würde S 21 erst Ende 2024 fertig.“
- Zudem könnten durch die Anhydrit-Risiken sogar Neubauten von Teilen der Tunnel nötig werden und dadurch Folgekosten entstehen, pro Schadensfall bis zu 195 Millionen Euro. Der Bahnbetrieb wäre bei größeren Tunnelschäden überdies „nicht mehr gewährleistet“, warnen die Experten“.
- „Die Wahrscheinlichkeit, dass solch ein Schaden der höchsten Risikostufe 3 eintritt, gibt die Studie bei den beiden je 2,9 Kilometer langen Röhren des Tunnels Feuerbach mit 4,5 bis 13,5 Prozent an. Bei der Westachse des Tunnels Bad Cannstatt liege dieses Risiko bei 2 bis 6 Prozent, bei den übrigen Bauwerken bei höchstens 1,5 Prozent“.
- „Häuser könnten beschädigt werden. … Bei allen vier Tunnelbauwerken kann es den Gutachtern zufolge in solchen Extremfällen auch zu Schäden an der Oberfläche und an Gebäuden über den Tunneln kommen. „Dies hätte Gebäudesanierungen bzw. Entschädigungszahlungen zur Folge“, heißt es im Bericht auf Seite 52. Solche Schäden seien aber laut DB versichert und würden keine Mehrkosten bei S 21 verursachen“.
- „Für problematisch halten die Gutachter auch, dass sich die DB bei der Bewertung der Tunnelrisiken bisher nur auf diesen einzigen Berater gestützt habe. Ein Beirat aus mehreren internationalen Fachleuten wäre die bessere Lösung gewesen, urteilt KPMG/Basler.“
- Der SWR zitierte in seinem TV-Beitrag das Fazit dieses Abschnitts aus dem KPMG- Gutachten:
Besonders bemerkenswert ist, dass bei dieser Bewertung auch das zusätzliche 144 Millionen teure Bauverfahren mit den Kunstharzinjektionen berücksichtigt wurde, das von WBI aufgrund der Erfahrungen mit dem Engelbergtunnel vorgeschlagen wurde.
Die DB Projekt Stuttgart-Ulm GmbH weist in einer Presseerklärung „Medienberichte entschieden zurück, wonach der Bau von Stuttgart-21-Tunneln im Anhydrit angeblich nicht beherrschbar sei. Im Rahmen des Projekts Stuttgart 21 sind bereits über die Hälfte der relevanten Anhydritlinsen erfolgreich durchfahren worden. Sämtliche dabei erhobenen Messwerte liegen signifikant unterhalb der Toleranzschwelle.“
Diese Pressemitteilung zeigt jedoch, dass die Bahn erneut das Anhydrit-Risiko bewusst in der Öffentlichkeit herunterspielt. Nicht mehr aufhaltbare Quellprozesse im Anhydrit können auch erst nach Jahren starten. Oft reicht die Luftfeuchtigkeit, um das Quellen auszulösen. Wie in der Presseerklärung eingeräumt, sind bereits Quellprozesse am Laufen, wenn auch „unter der Toleranzschwelle“. Und die Prüfer von Basler, Ernst und Partner hatten bei ihrem Besuch eines Tunnel Wasserzutritt festgestellt. So schrieb die SZ in ihrem Artikel „Bahnprojekt Stuttgart 24“ : „So stellten die Prüfer bei einer Besichtigung des Tunnels Bad Cannstatt Feuchtigkeit fest. Dabei habe die Projektgesellschaft der Bahn zuvor behauptet, die Tunnel seien in der Bauphase „absolut trocken“.
Das Aktionsbündnis hat das KPMG-Gutachten ausgewertet und weist in der Stellungnahme des Geologen Dr. Ralf Laternser auch auf darin nicht berücksichtigte Risiken, wie beispielsweise den Bau einer fabrikhallen großen Wendekaverne unter dem Kernerviertel/Uhlandshöhe im Übergangsbereich zum quellfähigen Anhydrit hin.