Bei 16 der 59 geplanten Tunnelkilometer für Stuttgart 21 müssen die Tunnelbauer durch stark quellfähige, anhydritführende Schichten. Unten finden Sie die geologischen Längsschnitte der einzelnen Tunnel mit den rot eingezeichneten Anhydritschichten. Zum Vergleich: Für den Bau des S-Bahn-Tunnels wurden insgesamt 2 km Anhydrit durchfahren. Entgegen mancher Zeitungsmeldungen verläuft jedoch kein einziger SSB-Tunnel durch anhydritführendes Gestein.
Die von dem renommierten Sachverständigen für den Tunnelbau bei Stuttgart 21, Prof. Dr. Walter Wittke, viel beschworenen „Gürtel und Hosenträger“ beim Tunnelbau durch das heimtückische Gestein reichen nun doch nicht aus. Gemeint sind die doppelten Dammringe, die als Abdichtungsbauwerke jeweils vor und hinter einer Anhydritschicht gebaut werden sollen, damit kein Wasser in das stark quellfähige Gestein eindringen kann. Prof. Wittke erläuterte dieses Bauverfahren in der Schlichtung vom 20.Oktober 2010 (S.10ff).
Für den Cannstatter sowie den Feuerbacher Tunnel präsentierte er in der Schlichtung wegen der speziellen Geologie (hier liegen die Tunnelquerschnitte nicht vollständig im unausgelaugten, anhydritführenden Gipskeuper) noch ein Schaubild Bauverfahren mit „doppelter Sicherheit“…
… und erläuterte es mit den folgenden Worten: „Das nächste Bild zeigt einen typischen Querschnitt für die Tunnel nach Feuerbach und Bad Cannstatt. Hier liegen die Dinge anders. Hier liegt der Anhydrit in Höhe der Tunnelsohle, teilweise auch höher. Aber ich zeige als Beispiel hier den Anhydrit in Höhe der Tunnelsohle. Hier können wir das Quellen nicht ganz vermeiden…. Hier bauen wir eine Knautschzone ein – das ist ein erprobtes Bauverfahren –, also einen Blähton, der sich bei Quellen zusammendrückt, ohne dem Quellen einen großen Widerstand entgegenzusetzen. Wenn ich das Quellen zulasse, bauen sich die Drücke ab. Das ist eine Folge des Quellverhaltens des Anhydrits. Wenn ich ein Quellen zulasse, werden die Drücke klein; verändere ich das Quellen, werden die Drücke größer, wenn Wasser da ist.Damit auch hier der Wasserzutritt begrenzt oder ausgeschlossen wird, führen wir einen Injektionskranz, der violett im rech ten Bild dargestellt ist, um den Tunnel herum und dichten das Gebirge noch einmal ab, sodass kaum Wasser nach unten vordringt. Auch hier: doppelte Sicherheit oder, wenn ich das so sagen darf, Gürtel mit Hosenträgern. Das ist das Prinzip für die Tunnel nach Bad Cannstatt und Feuerbach…“.
Der Geologe Dr. Jakob Sierig wies in der Schlichtung u.a. auf die nach seiner Einschätzung kritischen Abschnitte im Feuerbacher Tunnel hin, bei denen durch ev. Undichtigkeiten Wasser in das Anhydrit eindringen könnte:
Doch erst jetzt wurde im Zuge der Kostenexplosion um 623 Millionen Euro bekannt, dass im Cannstatter und Feuerbacher Tunnel das 2010 vom „Tunnelpapst“ Prof. Dr. Wittke noch präsentierte „erprobte Verfahren“ mit „doppelter Sicherheit“ doch nicht ausreichend ist. Dieses neue – 2015 nach einem Gutachten zum Dauersanierungsfall Engelbergtunnel von WBI empfohlene – Bauverfahren kostet die Bahn bei Stuttgart 21 zusätzlich 144 Millionen Euro.
So schreiben die Stuttgarter Nachrichten (hier) „Der Tunnelbau in diesem Abschnitt 1.5 wurde, nachdem der Bahn Erkenntnisse aus Untersuchungen im Engelberg-Autobahntunnel vorlagen, auf ein neues Verfahren umgestellt. Die zusätzliche Absicherung der beiden Röhren durch das Einspritzen von Harz in Bohrungen bis zu 25 Meter oberhalb der Tunnelröhren und eine deutlich verstärkte Tunnelsohle kostet laut Unterlagen allein 144 Millionen Euro zusätzlich.“
Und die Welt (hier) schrieb: „Das Verfahren zum Tunnelbau, das zunächst von einem renommierten Wissenschafter vorgeschlagen und ausgewählt wurde, ist aufgrund neuer Erkenntnisse überholt. Derselbe Wissenschaftler, dessen Befähigung weiter unumstritten ist, empfiehlt nun eine neue Bauweise, um die Robustheit der Röhren zu steigern. Sie sollen ein festeres Fundament und an den Decken bis zu 25 Meter lange Lanzen erhalten, die eingesickertes Wasser von der Röhrenhaut ableiten. Das und die Änderung der Planung schlagen mit 144 Millionen Euro zu Buche.“
Dieses neue Verfahren wurde jedoch auf der bislang ersten und einzigen Anwohnerveranstaltung für die vom Tunnelbau im Stuttgarter Norden betroffenen Anwohner, die im November 2015 statt gefunden hat, nicht erläutert. Weder das Einspritzen mit Harz noch die bis zu 25 Meter lange Lanzen im Erdreich unter den Gebäuden.
Nach dem negativen Berichterstattungen der letzten Tage hat die Projektgesellschaft Journalisten das neue, kostspielige Verfahren im Tunnelbau im Cannstatter Tunnel präsentiert. Die Stuttgarter Zeitung (hier), die FAZ (hier), SWR (hier), der SWR-Landesschau (hier), die Badische Zeitung (hier) und das Schwäbische Tagblatt (hier) berichten über die neue Technik. Die Tunnelbauer vermelden, dass sich der Tunnelboden während der Vortriebsarbeiten nur um 8 mm gehoben habe. Wobei anzumerken wäre, dass die Quellprozesse auch erst Jahre später einsetzen können und für Stuttgart 21 erst kurze Abschnitte im Anhydrit durchfahren wurden.
Die StZ schreibt: „An der Tunneldecke war davon aber schon nichts mehr zu registrieren, an der 60 Meter weiter oben liegenden Geländeoberfläche schon gar nicht. Geschuldet ist dieses problemlose Durchfahren der ersten Anhydritmeter aus Sicht von Wittke auch neuen Erkenntnissen im Umgang mit dem problematischen Gestein. Daraus resultierte eine neue Vorgehensweise unter Tage. In dem betroffenen Bereich wurde der Tunnel in Form eines umgekehrten U aus dem Berg gebrochen – ansonsten stellen die Mineure einen kreisrunden Querschnitt her. Dort wo das U über die Kreisform hinausgeht, wird verstärkt Spritzbeton eingesetzt, damit kein Wasser an das feuchtigkeitsempfindliche Gestein gelangt. 2015 ist dieses Verfahren erstmals angewendet worden… Um zu vermeiden, dass Feuchtigkeit von vorne in die Baustelle eindringt, werden vor dem eigentlichen Tunnelbau bis zu acht Meter lange Bohrungen in den Berg eingebracht, in die organische Verbindungen gepresst werden, die die Baustelle abdichten…“
Interessanterweise berichtet die Stuttgarter Zeitung von einer zweiten Anhydrit-Linse, die die Tunnelbauer Richtung Hauptbahnhof erwarten. Im publizierten Längsschnitt des Cannstatter Tunnels ist zumindest nur eine Linse eingezeichnet.
Wie hochkomplex und damit auch kostentreibend die Anforderungen an den Tunnelbau in dem schwierigen Stuttgarter Gestein sind, verdeutlicht auch dieses Bild aus dem Video der Bahn „FaSzination 21 – Tunnelbau mit Durchblick“ . Allein der Cannstatter Tunnel soll nach Aussage des Abschnittsleiters Wadim Strangfeld in 21 verschiedenen Querschnitten hergestellt werden:
Längsschnitte Tunnel im Anhydrit bei Stuttgart 21: Fildertunnel ( 2 x 4,3 km) /Obertürkheimer Tunnel (2 x 2,2 km) / Bad Cannstatt (2 x 215 m) /Feuerbacher Tunnel (2 x 1,3 km)