Der blaue Brief aus Brüssel an die Bundesregierung wegen der jahrelangen Überschreitung der Luftschadstoffe in Stuttgart und Leipzig zeigt seine Wirkung. Im Raum stehen sechsstellige Bußgelder je Überschreitungstag, die von der EU verhängt werden können. Im Januar 2015 präsentierten der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn und der Landesverkehrsminister Winfried Hermann noch einen enttäuschenden Maßnahmenkatalog, der weitgehend auf kleinteilige Maßnahmen, wie beispielsweise Elektrotaxis, und Freiwilligkeit zu weniger Individualverkehr setzte.
Ende Juli hatte der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn mit Verkehrsminister Winfried Hermann und Regierungspräsident Johannes Schmalzl ein Zwei-Stufen-Konzept gegen die zu hohen Feinstaub- und Stickoxidwerte vorgestellt. Jetzt ist im zweiten Anlauf doch von zeitlich gestaffelten Maßnahmen einschließlich temporären Fahrverboten ab 2017/18 die Rede. Man kann spekulieren, ob die EU gegenüber dem Bund, der für dieses Strafverletzungsverfahren zuständig ist, deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass der erste Maßnahmenkatalog vom Januar nicht ausreichend war.
Es erstaunt jedoch, dass auch in diesem zweiten Anlauf der Lkw- und Baustellenverkehr durch die Großbaustelle Stuttgart 21 vollkommen ausgeblendet wird. Dabei wird die Stuttgarter Innenstadt für fast ein Jahrzehnt durch den Baustellenverkehr von Stuttgart 21 zusätzlich massiv belastet. Für den Bau des Tiefbahnhofs und den unterirdischen 60 Kilometer Tunnelstrecken müssen rund 20 Millionen Tonnen Erdaushub abtransportiert werden. Allein in der Innenstadt fallen 8 Millionen Tonnen Aushub an, die bis zur zentralen Logistikfläche am Nordbahnhof oder anderen Entsorgungsdeponien per Lkw transportiert werden. Mehr dazu finden Sie im Beitrag Blauer Brief der EU wegen Feinstaubüberschreitungen und Stuttgart 21. Daher hatten sich die Netzwerke Mitte Januar 2015 in einem Schreiben an den Oberbürgermeister Fritz Kuhn gewandt und darin folgende Maßnahmen gefordert:
- ein aktualisiertes Belastungsszenario für die Luftbelastung durch den fast ein Jahrzehnt andauernden Baustellen-Verkehr durch Stuttgart 21
- die Berücksichtigung dieser Zahlen im neuen Luftreinhalteplan
- wirksame Maßnahmen zur Einhaltung der Grenzwerte besonders in der belasteten Innenstadt.
Der Brief ging auch an das Regierungspräsidium, das über die Maßnahmen entscheidet sowie an das Ministerium für Verkehr und Infrastruktur BW, das gegenüber der Bundesregierung über die getroffenen Maßnahmen berichten musste. Bis heute hat weder der Oberbürgermeister noch die Verwaltung der Stadt Stuttgart auf dieses Schreiben der Netzwerke geantwortet.
Die zusätzlichen Belastungen durch den Baustellenverkehr werden anscheinend ausgeblendet. Konkretere Zahlen hat die Bahn jetzt für den Stuttgarter Norden (PFA 1.5) im aktuellen schalltechnischen Detailgutachten vom 10.Juli 2015 zur zentralen Baulogistik, dem Zwischenangriff Nord und Prag ab Seite 40 veröffentlicht. Darin werden Lkw-Fahrten für die Materialanlieferung täglich und stündlich für folgende Szenarien aufgelistet: Durchschnittliche Fahrzeugbelastung / Maximale Fahrzeugbelastung / Nächtliche Fahrzeugbelastung. Das Verkehrsaufkommen zur zentralen Verlade- Fläche (C2) beträgt ca. 2.000 LKWs. Dieses Gutachten enthält keinen Übersichtsplan über die Lage der einzelnen Baustraßen. Ob diese Zahlen auch die Anfahrten und Leerfahrten über das öffentliche Straßensystem enthalten, ist noch unklar. Ebenfalls geht nicht hervor, ob und in welcher Größenordnung der Abtransport des Tunnelaushubs aus dem PFA 1.2./1.6 a, der aus der Rettungszufahrt Süd neben dem Wagenburgtunnel über das Förderband transportiert werden soll, enthalten ist.
Möglicherweise können die Lkw-Zahlen, die auf den Baustraßen der Innenstadt Richtung Zwischenangriff Nord unterwegs sind, ab 2017 stark ansteigen. Noch offen ist, ob der Abraum aus der 3,36 Kilometer langen Oströhre des unteren Fildertunnels, wenn die Tunnelvortriebsmaschine nach der Wendekaverne von der Innenstadt aus wieder Richtung Degerloch fährt, per Förderband zum ehemaligen mittleren Schloßgarten abtransportiert werden muss. Bahnvertreter räumten auf Nachfrage des Netzwerks Kernerviertel im Frühjahr ein, dass noch nicht sicher sei, ob das Förderband des Fildertunnels den Halbkreis in der Wendekaverne technisch leisten kann. Falls nicht, müsste der Tunnelaushub aus der Oströhre des unteren Fildertunnels statt über das Filderportal über die Innenstadt abtransportiert werden. Die Bahn hat sich in der Planänderung zum maschinellen Vortrieb des Fildertunnels beide Abtransportstrecken als Option offen gehalten.
Den Berichterstattungen der beiden Stuttgarter Zeitungen zu den geplanten Maßnahmen gegen die Luftverschmutzung ist lediglich zu entnehmen, dass von Seiten des Landes beim Thema Lastwagenverkehr „bestehende Konzepte überprüft“ werden. „Man arbeite mit der Transportwirtschaft an einem umfassenden Konzept„. Dies betrifft jedoch vorwiegend die Lkws, die die Ver- und Entsorgung der Großstadt sicherstellen sollen. Nur eine einzige Aussage findet sich zum Baustellenverkehr: Baumaschinen müssten wirksame Rußfilter haben. Diese sind jedoch für Stuttgart 21 bereits nach einer Klage der Deutschen Umwelthilfe verpflichtender Standard. Völlig offen ist, ob das Fahrverbot dann auch die Baustellen-Lkws trifft.
Die Lkws sind bereits, rund um den Hauptbahnhof Richtung Zwischenangriff Nord,am Wartberg, im Nordbahnhofviertel, in Wangen und am Filderportal unterwegs. Die Mehrbelastungen können jedoch nur aufgezeigt werden, wenn auch entlang der Routen Messtellen für Feinstaub und Stickoxide aufgestellt werden. Laut einem Bericht der Stuttgarter Nachrichten sollen weitere Messtationen für Feinstaub und Stickoxide sollen in der Stuttgarter Innenstadt errichtet werden. Ob diese die Belastungen der innerstätischen Wohngebiete, die von den Baustellen bei Stuttgart 21 betroffen sind abdecken, ist fraglich. Entlang der Lkw-Routen sind lediglich Messstellen für den Staubniederschlag installiert (siehe Messkonzept Staubniederschlag vom Oktober 2014). Für den ganzen Filderbereich insbesondere am Fasanenhof und die Neckarvororte Wangen, Unter- und Obertürkheim sind noch keine Messtellen geplant.
Die Stuttgarter Bürger greifen daher zur „Selbsthilfe“. Die Hard- und Softwarebastler des OK Lab Stuttgart plant die Verteilung von 300 selbstgebastelten Feinstaubmessgeräten, um quer über die Stadt die Schadstoffbelastung in der Luft zu messen. Kontext berichtete im Beitrag „Feine Dosen von Gift“ darüber.
Aktuelle Berichterstattungen der beiden Stuttgarter Zeitungen zu den geplanten Maßnahmen: StZ: Feinstaub-Alarm soll die Autofahrer stoppen / StZ: Hermann: Blaue Plakette kommt / StZ- Kommentar: Es bleibt spannend / StN: Fahrverbote schon ab 2017 / StN-Kommentar: Schweres Erbe /StN:Dünne Luft für Kretschmanns Mobilitätsgipfel / StN: Setzen auf Einsicht und Freiwilligkeit / StN: Kretschmann: Keine Debatte um neue Straßen / StN: Feinstaub: Behörde versucht Kläger los zu werden / StN-Kommentar: Keine Lösung auf Kopfdruck / StN: Erste Fahrverbote 2018 – weitere frühestens 2019 /StN: Weitere Messstellen in der Stadt