Die Bundesrepublik Deutschland hat im November wegen der in Stuttgart und Leipzig seit zehn Jahren überschrittenen Schadstoffkonzentrationen Ende November ein umfangreiches Schreiben aus Brüssel (hier) erhalten. Die EU-Kommission erwartet bis Ende Januar von der Bundesrepublik Deutschland einen Katalog mit wirkungsvollen Maßnahmen gegen die krebserregenden Partikelschwaden. Damit ist das Land Baden-Württemberg bzw. die Stadt Stuttgart aufgefordert einen konkreten Maßnahmenkatalog gegen die hohe Feinstaubbelastung in der Innenstadt vorzulegen. Ansonsten drohen Deutschland bei einer Verurteilung vor den Europäischen Gerichtshof hohe Strafzahlungen. Die beiden Stuttgarter Zeitungen haben ausführlich darüber berichtet (StZ 1 / StZ 2 / StZ 3 / StN 1 / StN 2). In einer gemeinsamen Presserklärung (hier) forderten daher Umwelt- und Verkehrsverbände sowie die Bürgerinitiative Neckartor das Stuttgarter Regierungspräsidium auf, wirksame Maßnahmen in die neue Fassung des Luftreinhalteplans aufzunehmen, darunter eine drastische Begrenzung der Verkehrsmengen in der Innenstadt, die Ausweitung des Parkraummanagements auf die gesamte Innenstadt, eine drastische Anhebung der Parkgebühren und Tempo 40 auf allen Steigungsstrecken. Mehr Informationen zum Thema Feinstaub finden Sie auf der sehr guten Internetseite der BI Neckartor.
Allerdings erwähnen die Presseberichte nicht, dass die Stuttgarter Innenstadt für fast ein Jahrzehnt durch den Baustellenverkehr von Stuttgart 21 zusätzlich massiv belastet wird. Für den Bau des Tiefbahnhofs und den unterirdischen 60 Kilometer Tunnelstrecken müssen rund 20 Millionen Tonnen Erdaushub abtransportiert werden. Allein in der Innenstadt fallen 8 Millionen Tonnen Aushub an, die bis zur zentralen Logistikfläche am Nordbahnhof oder anderen Entsorgungsdeponien per Lkw transportiert werden. Das Logistikkonzept der Bahn setzt als Ladekapazität eines LkWs für Aushub und Schüttgut rund 21 Tonnen an. Hochgerechnet sind damit für den Abtransport der 8 Millionen Tonnen im Bereich der Innenstadt und dem Stadtteil Nord mindestens 720.000 Lkw-Fahrten (Transport- und Leerfahrt) erforderlich. Im Oktober 2014 stellte die Bahn im Umwelt- und Technikausschuss des Gemeinderates ihr Logistikkonzept (hier) vor, das für die Baulogistikstraßen in der Innenstadt in unmittelbarer Nähe der Feinstaubhochburg Neckartor eine maximale tägliche Lastwagenkolonne von über 3.100 Fahrten (Transport-und Leerfahrt) (hier) vorsieht:
Dazu kommen noch unzählige Lkw-Fahrten zur Anlieferung des Baumaterials über die öffentlichen Straßen der Innenstadt, für die ansonsten wegen der Umweltzone ein Lkw-Verbot gilt. Als Haupt An- und Abfahrtsrouten sind die innerstädtischen ohnehin schon hochbelasteten B 14/B10 und die B 27 genannt. Über diese Lkw-Fahrten zur Anlieferung des Baumaterials über das öffentliche Straßennetz einschließlich der Rückfahrt existieren keine offiziellen Zahlen von Seiten der Bahn. Sie werden auch nicht in den schalltechnischen Detailgutachten (hier) in die Lärmprognosen einbezogen.
Mit welchem Konzept die Stadt Stuttgart unter diesen massiven zusätzlichen Belastungen durch den jahrelangen Baustellenverkehr die zum Schutz der Bevölkerung vorgegebenen Luftwerte einhalten will, bleibt ein Rätsel. Noch 1997 gab die Stadt Stuttgart ein Gutachten zur „Verkehrsbedingten Schadstoffbelastung im Zusammenhang mit der Planung von Stuttgart 21“ (hier) in Auftrag. Dieses Gutachten wurde damals durch das Ingenieurbüro Lohmeyer erstellt, dessen Geschäftsführer Dr.-Ing. Achim Lohmeyer heute auch als Immissionsschutzbeauftragter der Bahn bzw. der Arbeitsgemeinschaft „Immissionsschutzbeauftragter S21 & WeU“ für Staub und Abgase fungiert. Zwar haben sich durch die Planänderung zum maschinellen Vortrieb des Fildertunnels die Aushubmengen, die über die Innenstadt abgewickelt werden sollen, vermindert. Bis heute hat jedoch die Stadt Stuttgart kein aktualisiertes Gutachten über das drohende zusätzliche Belastungsszenario durch den Baustellenverkehr von Stuttgart 21 und Maßnahmen zur Gegensteuerung veröffentlicht.
Die im Bereich der zentralen Baulogistik eingesetzten Lkws und Verladefahrzeuge sind nach Angaben der Bahn (hier) mit Partikelfilter ausgestattet bzw. grüner Plakette versehen. Zu dieser Maßnahme wurde die Bahn durch eine Klage der Umwelthilfe 2010 (auch hier wurde die Stadt Stuttgart nicht tätig) verpflichtet, nachdem die Bahn in ihren Ausschreibungen diese Planfeststellungsauflage nicht oder nur unzureichend aufgenommen hatte. Den Text des gerichtlichen Vergleiches finden Sie hier. Allerdings wurden bereits zu Beginn der Bauarbeiten zahlreiche Verstöße gegen die gerichtlich erstrittene Verpflichtung von der Umwelthilfe dokumentiert. Und die Rußpartikelpflicht gilt nur für die Baumaschinen, die serienmäßig bereits mit Rußpartikelfilter ausgerüstet oder serienmäßig nachrüstbar sind. Eines ist jedoch absehbar: Maßnahmen zur Reduzierung des Innenstadtverkehrs werden durch die Lkw-Kolonnen, die jahrelang in den Hauptbauzeiten bei „Europas größter Baustelle“ (O-Ton Bahn) das Bild der Innenstadt rund um den Bahnhof und den Norden prägen werden, ganz oder teilweise absorbiert.
Die Auswirkungen des Baustellenverkehrs werden sich sicherlich auch in den Messwerten niederschlagen. Wir hatten bereits über die Feinstaubbelastung und das „kostensparende“ Messkonzept der Bahn, das nur auf die Daten der beiden bereits bestehenden Stationen am Hauptbahnhof und am Neckartor zurückgreifen will, berichtet (hier). Im Oktober 2014 veröffentlichte die Bahn auf der Seite des Kommunikationsbüros ein dreiseitiges Messkonzept zur Staubbelastung (hier), das noch zusätzliche Messstationen im Kernerviertel, in der Umgebung des Hauptbahnhofes und entlang der Baulogistikstrecke vorsieht. Es bleibt jedoch zu befürchten, dass auch gesundheitsgefährdende Überschreitungen der Grenzwerte, die jeweils auf das Jahr bemessen werden, keine Fahrverbote der Baustellen-Lkws auf den nicht-öffentlichen Baulogistikstraßen nach sich ziehen werden, soweit nicht rechtliche Hebel von Seiten der EU bestehen.