Vom Anstand und dem Bohren dicker Bretter – die Informationsveranstaltung der Netzwerke im Rathaus

Die gestrige Veranstaltung „Der Tunnel unter meinem Haus- Grundbucheintrag? Entschädigung? Haftung?”, zu der die Netzwerke und die Grünen-Fraktion des Gemeinderats eingeladen hatte, stieß auf reges Interesse. Rund 500 betroffene Eigentümer kamen ins Rathaus, um sich über die rechtlichen Bedingungen der Unterfahrung zu informieren. Lesen Sie dazu die Berichte der beiden Stuttgarter Zeitungen (Stuttgarter Zeitung / Stuttgarter Nachrichten).

Cam21 übertrug dankenswerterweise die Veranstaltung live mit weiteren 500 Viewern.  Wir danken auch  FlügelTV, die die einzelnen Beiträge aufgezeichnet und ins Netz gestellt haben. Daher gehen wir nur kurz auf die Referenten und die Themen ein und verweisen auf die Videos der sehenswerten, hochkarätigen Vorträge und Fragenrunden:

Eröffnet wurde die Veranstaltung von der Grünen-Stadträtin Gabriele Munk, Architektin, Stadtplanerin und Mitglied des Gutachterausschusses der Stadt Stuttgart, die sich als Mitglied des Verwaltungsrates der Landeswasserversorgung für eine eine Überprüfung der Entschädigungshöhe auf Basis des realen Grundstückswertes eingesetzt hatte. Ihr Vorschlag, dass eine Beweislastumkehr in den Gestattungsvertrag mit aufgenommen wird, lehnte die Bahn pauschal mit dem Hinweis auf die gesetzlichen Haftungsregelungen ab. (Video Vortrag). Moderiert wurde die Veranstaltung von Jochen Stopper, Stadtrat der Grünen.

Prof. Dr.Uwe Dreiss, Patentanwalt, Honorarprofessor der Universität Stuttgart und u.a. im Netzwerk Kernerviertel aktiv, stellte die Arbeit der Netzwerke vor und ging kurz auf die Situation der betroffenen Eigentümer ein, die den bautechnischen, geologischen und finanziellen Risiken der Unterfahrung ausgesetzt sind. Die Bahn hatte zwar in ihren Gutachten alle Risiken ausgeschlossen, doch zeigen die Erfahrungen aus anderen Bauprojekten im geologisch schwierigen Untergrund und jetzt die ersten Schäden bei der Landeswasserversorgung sowie aktuell das Abrissangebot der Bahn an die IHK, dass diese nicht von der Hand zu weisen sind. Dies würde die Besorgnis der Betroffenen noch vergrößern. Schließlich handele es sich auch in vielen Fragen um juristisches Neuland. (Video Vortrag)

Markus Laiblin, Sachverständiger für Grundstücksbewertung und Mitglied des Gutachterausschusses der Stadt Stuttgart, skizzierte in seinem Vortrag die objektive Wertminderung (Einschränkung in der Nutzung des Grundstückes, Beeinträchtigungen durch den Bahnbetrieb etc.) und die subjektive Wertminderung infolge des Eintrags in das Grundbuch. Die Entschädigungsangebote der Bahn beträfen erst einmal die der subjektiven Wertminderung durch den Grundbucheintrag. Dieses löse unabhängig von realen Beeinträchtigungen subjektive Vorbehalte bei einem ev. Verkauf aus. Laiblin stellte dann die Grundzüge des sogenannte „Stuttgarter Gutachten“ der Freiburger Firma DIA Consulting AG vor, dass von diesen auf Basis eines Münchner Gutachten im Zuge des S-Bahnbaus entwickelt wurde. Gegenüber dem Münchner Gutachten staffele die Bahn noch nach drei Kategorien der Beeinträchtigung (bis 1/3, 2/3 und mehr als 2/3 des Grundstücks) und die Entschädigungsprozentsätze seinen niedriger angesetzt. Ein entscheidender Unterschied gegenüber allen anderen Verfahren in Deutschland sei jedoch, dass die Bahn den Entschädigungen statt dem realen Bodenwert des Grundstücks nur pauschale Bodenrichtwerte zugrundelege. Diese würden jedoch von den realen Preisen je nach Aussichtslage, Bebauungsmöglichkeiten etc. bis zu 30 % abweichen. Es wäre zwar aus Sicht der Bahn angesichts der Vielzahl der Grundstücke zur Vereinfachung des Verfahren nachvollziehbar, würde jedoch aus seiner Erfahrung als Sachverständiger vor Gericht nicht haltbar sein. (Video Vortrag / Video Fragen)

Auch der Rechtsanwalt Klaus Lebsanft, Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht und zugelassen beim OLG kritisierte in seinem Vortrag die Berechnungsgrundlagen der Bahn, die gegenüber dem üblichen Münchner Verfahren nur zum Zwecke der Reduzierung der Gesamtentschädigungen differenziert wurde. Auch die im Münchner Verfahren prakti-zierte Abstufung, ab welcher Unterfahrungstiefe eine Beeinträchtigung durch den Tunnel nicht gegegeben sei, sei rechtlich fragwürdig. Die Gestattungsverträge der Bahn seien einseitig zu Lasten der betroffenen Eigentümer ausgelegt. Anders als beispielsweise beim Bau der Münchner S-Bahn müssen die Betroffenen bei Stuttgart 21 eine Einschränkung der Nutzbarkeit ihres Grundstückes hinnehmen und hätten durch die geologischen Verhältnisse ein höheres Risiko zu tragen. Die gesetzliche Haftung, bei der die Betroffenen der Bahn und den Baufirmen die Schuld erst einmal nachweisen müssen, ginge eindeutig zu Lasten der Betroffenen. Dies sei beim Bau der Stuttgart S-Bahn und beim Bau des Heslacher Tunnels anders gewesen. Man müsse jedoch nicht jedes Recht ausüben, dass man habe. Das gebiete der Anstand. Daher appellierte er an die politischen Verantwortlichen von Stadt und Land sich hier im Interesse der betroffenen Stuttgarter Bürger  für eine Beweislastumkehr einzusetzen. (Video Vortrag / Video Fragen)

Ebenso kritisierte Rechtsanwalt Dr. Armin Wirsing, Fachanwalt für öffentliches Baurecht, die einseitigen Haftungsregelungen der Bahn. Nach seiner Erfahrung lehnt die Bahn in Gesprächen mit den Betroffenen sowohl eine Beweislastumkehr als auch abgeschwächte Regelungen wie des Anscheinsbeweises rigeros ab. Während die SSB noch etwas gesprächsbereiter sei, müsse man gegenüber der Bahn sehr „dicke Bretter bohren“. Auch er appellierte an die Vertragspartner der Bahn, d.h. die poltischen Vertreter der Stadt und des Landes, sich hier für eine faire Behandlung der betroffenen Bürger einzusetzen und zumindest die Beweislastumkehr oder den Anscheinsbeweis einzufordern. (Video Vortrag / Video Fragen / Folien Vortrag)

Alle Referenten empfahlen den Zuhörern dringend, die Vertrags- und Gestattungs-angebote der Bahn nicht zu unterschreiben, sondern über die Höhe der Entschädigung und die Haftungsfragen zu verhandeln. Falsch wäre auch, die Gespräche zu verweigern oder auf die Angebote nicht zu reagieren. In diesem Fall könne die Bahn beim Regierungs-präsidium die vorzeitige Besitzeinweisung ohne eine Einigung in der Entschädigungsfrage einleiten.

Dem Netzwerk Killesberg liegt beispielsweise ein Antrag der Bahn an das Regierungs-präsidium vor, in dem bereits von einer Verweigerung der Eigentümer die Rede ist, die in der Vorweihnachtszeit nicht innerhalb weniger Tage (10-12 Tage nach Absand des Schreibens) auf das Angebot der Bahn reagiert hatten. Daher sollten alle Betroffenen der Bahn zumindest Gesprächsbereitschaft über das Entschädigungsangebot und den Gestattungsvertrag signalisieren und sich mit den Netzwerken kurzschließen.

Die Netzwerke werden weiterhin im Interesse der betroffenen Eigentümer auf die politisch Verantwortlichen bei Stadt und Land zugehen. Den letzten Brief der Netzwerke an den Oberbürgermeister Fritz Kuhn zur Problematik der Schadenshaftung bei Stuttgart 21 finden Sie hier.

Update: Sie finden hier den Link zu Uli Fetzers Fotos der Veranstaltung

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