Die Stuttgarter Zeitung berichtete gestern (Bericht / Kommentar), dass die Bahn jetzt die Risiko-Liste des damaligen Projektleiters Hany Azer aus dem Jahr 2011 (hier) veröffentlicht hat. Anlass ist eine Klage des Aktionsbündnisses auf Einsicht in diese Liste. Sie fordern einen öffentlichen Zugang in die Unterlagen des áus Steuermitteln finanzierten Großprojekts. Die StZ erwähnt allerdings nicht, dass die Bahn bislang in der gerichtlichen Auseinandersetzung erklärte, dass ihr diese Liste nicht mehr vorläge. Das Verwaltungsgericht Berlin hatte deshalb am 10.Dezember 2015 u.a. den Bahnvorstand Volker Kefer als Zeugen geladen. Der Konzern bzw. die Projektgesellschaft Stuttgart-Ulm GmbH kommt jetzt einer Zeugenvernehmung ihres Vorstandsmitglieds und und einer möglichen Verurteilung auf Einsicht in die Unterlagen zuvor.
Dabei ist die unter Verschluss gehaltene Risikoliste bereits 2010 durch die Reportage von Arno Luik im Stern und in weiten Teilen 2013 durch die Ingenieure 22 (Abschrift / Bewertung / Video Pressekonferenz) an die Öffentlichkeit gekommen. Die Netzwerke haben im Oktober 2013 über die darin enthaltenen Risiken für den Tunnelbau bei Stuttgart 21, wie z.B. den Anhydrit, Dolinen und Hebungsinjektionen berichtet. Auch kann man der Risikoliste aus dem Jahr 2011 auf S.68 entnehmen, dass für damals der Bahn für die vom Filder- und Obertürkheimer Tunnel betroffenen Grundstücke keine aktuellen Gutachten vorlagen. Das Risiko von höheren Grunderwerbskosten wurde allein für die Abschnitte 1.2. und 1.6a mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit von 49% und mit einem Risikobetrag von 21,9 Millionen Euro geschätzt. In dem Text findet man auch den Hinweis auf das von der Bahn damals mit der Landsiedlung vereinbarte vereinfachte Bewertungsverfahren: „Gemäß Vereinbarung mit der Landsiedlung sollen Grundstücke zukünftig mit der sog. Bewrtungsstufe 1 (Bewertung auf Basis Bodenrichtwerte) und ggfls nach Stufe 2 (Bewertung im Einzelbewertungsverfahren) durchgeführt werden. Diese sollen Basis für die Verhandlungen mit den Grundstückseigentümern sein.“ Die Netzwerke haben in der Vergangenheit mehrfach darauf hingewiesen, dass nach der Rechtslage auf Basis des Verkehrswerts zu entschädigen sei. Eine Entschädigung auf Basis des durchschnittlichen Bodenrichtwertes kann je nach Lage und Bebaubarkeit des Grundstücks deutlich geringer ausfallen.
Die Liste ist sicherlich in einigen Punkten überholt bzw. die Risiken sind eingetreten, wie beispielsweise die höhere Grundwasserentnahmemenge. Doch der Blick lohnt sich in die ebenfalls neu auf der Webseite der Projektgesellschaft eingestellten Informationen zur Finanzierung von Stuttgart 21, den Kosten sowie dem Chancen- und Risikenmanagement. Zu letzterem findet man auf der Webseite den folgenden Hinweis: „Das Chancen- und Risikomanagement wird von gut 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der DB Projekt Stuttgart-Ulm GmbH wahrgenommen.“ Von daher ist davon auszugehen, dass für Stuttgart 21 mittlerweile eine sehr viel umfassendere und differenziertere Chancen- und Risiken-Liste vorliegt.
Dies sollte auch bei Großprojekten dieser Größenordnung Standard sein. Über die Notwendigkeit einer umfassenden detaillierten Risikoidentifizierung und -bewertung besonders in der Planungsphase von Großprojekten sprach in zahlreichen Interviews Klaus Grewe, der als Projektmanager u.a. erfolgreich die Olympischen Spiele in London gesteuert hatte und derzeit im Cross-Rail-Projekt in London involviert ist: „Macht der kleinen Zahlen“ / Projektmanager: Risiken von Großprojekten transparent machen / Vordenken und Vorplanen kommt vor Bauen / Risiken werden unterschätzt. Die Risiken als auch die Kosten für Olympia waren im Internet für die Öffentlichkeit einsehbar. Dafür sind in London sogar Gesetzte geändert worden.
Von dieser Transparenz ist man beim Bahnprojekt Stuttgart 21 noch weit entfernt. Besonders für die vom Tunnelbau betroffenen Eigentümer ist eine Offenlegung der Baugrundrisiken im Hinblick auf die Haftungsfrage bei Bauschäden von sehr hohem Interesse und eigentlich auch ein Gebot der Fairness. Doch auch die Kosten von Stuttgart 21 gehen alle Steuerzahler und Bahnfahrer an. Wir haben bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass Klaus Grewe sich nach kurzer Zeit aus dem Beirat von Stuttgart 21 zurückgezogen hatte und in einem StZ-Interview von „politischen Wunschzahlen“ sprach. Die Kostenaufstellungen und Chancen-/Risikenlisten der Deutschen Bahn für Stuttgart 21 sind nicht einmal dem Bundesrechnungshof oder den Bundestagsabgeordneten zugänglich. So bleibt der Öffentlichkeit nur überlassen, den Aussagen des Konzerns, dass sie beim Projekt Stuttgart 21 im Kostenrahmen liegt und die alle Risiken im Griff habe, zum wiederholten Male „Glauben zu schenken“, auch wenn diese Aussagen sich in der Projektgeschichte als sehr schnell überholt erwiesen haben. Sogar Ex-Daimler-Vorstand Edzard Reuter äußerte am 18.11.2015 beim Podiumsgespräch mit Boris Palmer harsche Kritik am Geschäftsgebahren der Bahn bei Stuttgart 21: „… und dann sind plötzlich Zahlen auf den Tisch gekommen, die ganz eindeutig erstunken und erlogen waren … und mithilfe dieses Instrumentariums ist das Projekt dann mit Brecheisen zum Schluß durchgesetzt worden.“
Auf der neuen Webseite der Projektgesellschaft ist jetzt zur Kostenentwicklung und Kostensteuerung von Stuttgart 21 folgendes zu lesen: „Zum Stand Ende 2015 ist zu erwarten, dass für das Projekt Stuttgart 21 Aufträge einschließlich etwaiger Nachträge in einem Volumen von rund 3.100 Mio. Euro vergeben sind. Dies entspricht fast der Hälfte des Gesamtwertumfangs. Zum Jahresende erwartet das Projekt Gesamtausgaben in Höhe von 1.500 Mio. Euro und damit etwa ein Viertel des Gesamtwertumfangs. Stuttgart 21 kann somit nach Überzeugung der Geschäftsführung der DB Projekt Stuttgart–Ulm GmbH mit großer Plausibilität innerhalb des bewilligten Kostenrahmens realisiert werden.“
Wirtschaftsprüfer, so die Zeit in ihrem Beitag „Hohes Risiko“ von 23.Juli 2013, attestierten Stuttgart 21 jedoch ein hohes Kostenrisiko: „Die Bahn hat mögliche Nachforderungen von Auftragnehmern, wie sie bei Großprojekten üblich sind, in ihrer Kalkulation nicht ausreichend berücksichtigt. Ohne umfassende Maßnahmen rechnen die Prüfer mit einem im Vergleich zum „Gesamtwertumfang erheblichen Nachtragsvolumen“, also mit einer weiteren Kostenexplosion.“ Die Bahn hat in diesem Bereich reagiert. So heißt es jetzt auf der Webseite: „Risiken aus Nachträgen zu managen ist Aufgabe von weiteren rund 30 Vertragsmanagern“.
Update: 30.11.2015: Die Stuttgarter Nachrichten berichtet heute (hier) über die Gründe, warum das Aktionsbündnis auf Einsicht in die Azer-Liste geklagt hatte: „Für die Projektgegner ist mit der Azer-Liste ein Detail geklärt, die wesentliche Frage bleibt. Sie lautet, wann Kefer & Co. von der Kostenexplosion wussten und wie lange sie die Mitzahler Land, Stadt und Region unwissend ließen. Der Aufsichtsrat hat Grube verpflichtet, vom Land Milliarden einzuklagen. Grün-Rot sperrt sich. Die Gegner glauben nicht, dass die Milliardenspritze ausreicht. Am 16. Dezember wollen sie in Berlin ein Gutachten zur weiteren Kostenentwicklung präsentieren“.