Rede von Frank Schweizer auf der Delegationsreise nach Wien

Wie bereits berichtet, war Frank Schweizer, Sprecher des Netzwerks Kernerviertel, auf einer Delegationsreise des Staatsministeriums unter Führung von Gisela Erler, der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, in Wien vom 15. bis 18.Oktober 2014 eingeladen. In Wien wurde am 10.Oktober ein neuer Hauptbahnhof eröffnet. Ziel der Delegationsreise war es, „sich zu den Erfahrungen mit der Bürgerbeteiligung auszutauschen und voneinander zu lernen“. Es wurde jedoch bei der Besichtigung des Wiener Bahnhofs auch den aus Stuttgart mitgereisten Bauleuten klar, dass man in Wien ein vernünftiges Bauwerk unter viel einfacheren technischen Bedingungen pünktlich und wie kalkuliert herstellen konnte, als das was in Stuttgart versucht wird. Der Vergleich ergab nur Unterschiede. Gemeinsam ist nur, dass es sich jedes mal um einen Bahnhof dreht.

Auf dem Workshop sprach Frank Schweizer einen kurzen Vortrag zur “nachlaufenden Bürgerbeteiligung” bzw.  den aktuellen Problemen der betroffenen Eigentümer und Anwohner bei Stuttgart 21. Da sein Referat auf 7 Minuten begrenzt war, hielt er es frei in einer gekürzten Fassung. Hier finden Sie den ungekürzten Text seiner Rede:

Stuttgart 21 ist nicht nur ein Bahnhof, sondern ein unterirdischer Eisenbahnknoten. Es sollen dafür ca. 59 km Tunnel gegraben werden, davon sollen 6 Tunnelröhren den Neckar unterqueren; bislang sind 1207 m Tunnelstrecke ausgeführt (das entspricht – Stand 13.Oktober 2014- 2,04 %). Die Inbetriebnahme des Knotens soll 2022 erfolgen -oder später. Die offiziellen Baukosten liegen bei 6,5 Milliarden Euro wahrscheinlich werden es mehr. Selbst die offiziellen Baukosten sind noch nicht wirklich finanziert. Die Planfeststellungen für die Filderstrecke mit Flughafenbahnhof und für den Abstellbahnhof in Untertürkheim stehen noch aus.

Betroffen von dem Projekt sind vor allem die Anwohner, die durch die langjährigen Baustellen belästigt werden. Besonders und unmittelbar betroffen sind die ca. 3000 Eigentümer der Grundstücke, die unterfahren werden sollen. Sie müssen eine Baulast in ihrem Grundbuch erlauben oder per Teilenteignung hinnehmen. In Fachkreisen spricht man da von Grundbuchverschmutzung. Betroffen sind die Fahrgäste der Bahn, aber auch die Fahrgäste der Stadtbahn wegen des Umbaus der Haltestelle Staatsgalerie. Betroffen sind auch all die Bürger, die weiter auf den Ausbau der Schienenwege in ihrer Region warten müssen, weil das Geld in Stuttgart verbaut wird.

Die politische Diskussion begann Mitte der 90er Jahre. 1998 wurde das Projekt auf Eis gelegt. Der damalige Ministerpräsident Oettinger setzte das Projekt mit einem umstrittenen Finanzierungsangebot an die Bundesregierung und die Bahn AG wieder auf die Tagesordnung.

Nachdem die Unterfahrung von Grundstücken und die zu erwartende Belästigung der Anwohner durch die Bauarbeiten für die Betroffenen immer klarer erkennbar wurden, haben vor mehr als zwei Jahren ca. 15 Bürger aus dem Kernerviertel ein Netzwerk gebildet, das relativ schnell auf rund 300 Anwohner angewachsen ist. Das Kernerviertel liegt zwischen der Talmulde mit Tiefbahnhof und der Halbhöhenlage Gänsheide. Dieser Stadtteil ist durch einen steilen Hang und viele Stützmauern gekennzeichnet. Weitere Netzwerke entlang der Tunnelstrecken wurden geknüpft. Die topografisch bedingten Probleme sind in den betroffenen Stadtteilen ganz unterschiedlich. Die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Netzwerken ist sehr eng. Die Informationen werden netzwerkspezifisch per Internet verbreitet. Die Netzwerke 21 haben in vielen Informationsveranstaltungen die betroffenen Bürger über die geplanten Baumaßnahmen informiert. Hiermit wurde eine große Informationslücke gefüllt, die im Grunde die Aufgabe der Bahn als Vorhabenträgerin oder die der Stadt Stuttgart gewesen wäre.

Die Stadt Stuttgart zahlt jährlich einen Zuschuss von ca. 600.000 Euro für die Öffentlichkeitsarbeit. Zusätzlich beteiligt sich die Stadt zusammen mit dem Land, der Region und der Flughafen GmbH mit insgesamt 960 Millionen Euro an diesem Projekt. Die Öffentlichkeitsarbeit konzentriert sich vor allem auf die Vorteile des Projektes, die Risiken werden nicht kommuniziert. Die Risiken werden immer stärker offenbar. Es sind dies die Investitionskosten, die Leistungsfähigkeit des neuen Eisenbahnknotens, der Brandschutz und die Gefährdung der unterfahrenen Gebäude.

Die Informationsabende der Netzwerke wurden von bis zu 500 Bürgern besucht. Die Fachvorträge haben Mitglieder der Netzwerke, engagierte Rechtsanwälte, Geologen und Ingenieure gehalten. Einige Vorträge und Präsentationen wurden per Video dokumentiert. Sie können über unsere Webseite www.netzwerke-21.de abgerufen werden.

Inzwischen haben eine von der Stadt Stuttgart bestellte Bürgerbeauftragte und die Bahn AG begonnen, mehr oder weniger regelmäßig die betroffenen Bürger über den jeweiligen Stand des Projektes zu informieren. Diese späte Reaktion von Vorhabenträgerin und Projektpartner mag man als „nachlaufende Bürgerbeteiligung“ verstehen.

In der „Verwaltungsvorschrift zur Intensivierung der Öffentlichkeitsarbeit in Planungs-und Zulassungsverfahren“ wird die sogenannte nachlaufende Bürgerbeteiligung durch die zeitliche Einordnung „nach Erlass der Zulassungsentscheidung“ definiert.

Die Netzwerke wurden nicht aufgefordert sich im Nachhinein an der Projektrechtfertigung zu beteiligen. Wir haben uns mit Nachdruck in die Diskussion eingemischt. Würde der neue Leitfaden zur Bürgerbeteiligung bei allen Planungen richtig angewendet, dann dürfte es keine sogenannte „nachlaufende Bürgerbeteiligung“ geben.

Polemisch ausgedrückt sollte man von einer „nachhinkende Bürgerberuhigung“ sprechen

Die Netzwerke 21 nehmen vor allem zwei Funktionen wahr. Sie klären über die Bestimmungen in den Planfeststellungsbeschlüssen und über die nachlaufenden Planänderungen sowie die daraus resultierenden Belastungen auf. Die Netzwerke verstehen sich aber auch als Lobby für die unmittelbar betroffenen Grundstücksbesitzer und Mieter. Daher engagieren sich bei uns auch zahlreiche Projektbefürworter. Wenn es um die sogenannte Grundbuchverschmutzung oder um nicht abgedeckte Risiken durch die geplanten Baumaßnahmen geht, hört auch bei den schwäbischen Häuslesbesitzern der Spaß auf.

Die Netzwerke haben über die Bedeutung und die Notwendigkeit der Beweissicherung informiert und die Bahn gedrängt, nicht nur die Gebäude sondern auch die Stützmauern am Hang des Kernerviertels in ein geodätisches Überwachungsnetz aufzunehmen. Die meisten Gebäude im Kernerviertel stehen auf Terrassen mit Stützmauern von bis zu 8 Metern Höhe. In vielen Grundstücken sind die Gärten mehrfach terrassiert.

Die Netzwerke sind kein Haufen von Bürgern, die erst dann aufgewacht sind, nachdem die Pläne rechtskräftig festgestellt worden waren. Im Kernerviertel haben viele Betroffene gegen die Planfeststellung Einwände erhoben. Neben der unmittelbaren Betroffenheit wurden auch Probleme beim Denkmalschutz, beim Mineralwasserschutz, bei der Planrechtfertigung, beim Schutz vor Baulärm angesprochen, die ich hier aus Zeitgründen nicht weiter ausführen möchte. Gemeinsam mit unseren Nachbarn haben meine Frau und ich gegen die Planfeststellung des Fildertunnels Klage erhoben. Dieser Bauabschnitt 1.2 schließt sich unmittelbar an den Tiefbahnhof an und endet ca. 1 km vor dem Flughafen. Die Bedenken unseres geotechnischen Gutachters wurden vom Verwaltungsgerichtshof vom Tisch gewischt. Der Verwaltungsgerichtshof sah es als nicht notwendig an, einen Obergutachter zu bestellen. Allein die Auffassung des Planers der Bahn waren für das Gericht von Belang. Unserer Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht wurde nicht angenommen. Damit waren wir ein paar Tausend Euro ärmer.

Doch zu den Risiken, die sich aus der Unterfahrung in einer Tiefe von ca. 30 m für unser 125 Jahre altes denkmalgeschütztes Mehrfamilienhaus ergeben, haben wir bis heute kein neutrales Gutachten bekommen. Allen Aussagen bezüglich der Risiken stammen von demselben Planer, den die Bahn bezahlt.

Nach wie vor kämpfen die Netzwerke um umfassende Transparenz, um den Zugang zu den intern vorhandenen Gutachten und um die darin enthaltenen Abwägungen.

Zum Beispiel wurden im Kernerviertel, auch in unmittelbarer Nähe unseres Hauses, sogenannte Infiltrationsbrunnen installiert. Dort soll das Wasser, das in den Tunneln und in der Baugrube anfällt während der Bauzeit in die süße Grundwasserschicht im Bereich des Schlossgartens eingespeist werden. Bei einem Infiltrationsbrunnen wurde offenbar eine Grundwasserader angestochen. Tagelang fuhren Betonmischer bis der unterirdische Wasseraustritt gestoppt werden konnte. Wieviel Beton an diesem Bohrloch eingebracht wurde, wurde trotz häufiger Nachfragen nicht kommuniziert. Im Rahmen der 7. Planänderung zum sog. Grundwassermanagement, (Inzwischen sind es mindestens 14 Planänderungen) legte die Bahn nur eine vier Seiten umfassende „gutachterliche Stellungnahme“ des obersten Tunnelbauers über die Unbedenklichkeit der jahrelangen Infiltration in die geologisch kritischen Gesteinsschichten vor. Die ausführliche gutachterliche Stellungnahme legte die Bahn erst nach Ablauf der Auslegungsfrist vor.

Vielleicht geschah das doch noch, weil die in den Netzwerken organisierten Anwohner und Eigentümer dieses Gutachten nachdrücklich gefordert hatten.

Das Eisenbahn-Bundesamt hat nach mehr als zwei Jahren die 7. Planänderung genehmigt. Mit dieser Genehmigung darf die Bahn nunmehr doppelt soviel Grundwasser abpumpen als nach der ursprünglichen Planfeststellung. Welcher Anteil der abgepumpten Wassermenge davon wieder infiltriert werden kann, wird erst die Praxis zeigen.

Aufgrund des starken Eingriffs in das Grundwasserregime sorgen sich die Hausbesitzer um die Standsicherheit ihrer Immobilien. Bei den Erörterungen wurden alle Bedenken der betroffenen Bürger zur Gebäudesicherheit von den Bahngutachtern als nicht relevant abgetan.

Die Netzwerke werden weiter darum kämpfen dass Daten der Hangstabilitätsmessungen veröffentlicht werden. Im unteren Kernerviertel müssen ganze Häuser durch Injektionen in den Baugrund angehoben werden. Nach Aussage des Landesamts für Geologie ist das in diesem weichen Gestein in Stuttgart noch nie durchgeführt worden. Dabei geht die Bahn in ihrer internen Risikoliste mit einer 49%igen Wahrscheinlichkeit davon aus, dass Schäden bei den Hebungsinjektionen im unteren Bereich des Kernerviertels auftreten werden.

Ein weiteres Problem stellt der Lärmschutz dar. Die Neutralität, die man einem gesetzlich vorgeschriebenen Immissionsschutzbeauftragten unterstellen sollte, ist nicht gewährleistet, da dieser seit Jahren gutachterlich für die Bahn AG tätig ist. Selbst die Aufsichtsbehörde, das Eisenbahn-Bundesamt, musste gegenüber dem Netzwerk Kernerviertel einräumen, dass die Lärmprognosen des Gutachters unzureichend sind. Das EBA fordert die Bahn jedoch nicht auf, neue Lärmprognosen auf Basis des gesamten geplanten Baugeschehens zu erstellen, wie es die Planfeststellung eigentlich vorsieht. Die Gutachten zum passiven Schallschutz sollen aus Datenschutzgründen unter Verschluss bleiben und somit nicht von Gutachtern der Hausbesitzer überprüft werden können. Ein solches Verhalten führt zwangsläufig zur Bürgereinmischung.

Die Bahn braucht bei S21 allein ca. 3.000 Zustimmungen von Eigentümern, damit sie deren Grundstücke unterfahren darf. Nachdem die zunächst beauftragte Landsiedlung sich mit mäßigem Erfolg mit den Eigentümern auseinandersetzte, hat die Bahn die Verhandlungen mit den Eigentümern selbst übernommen. Die Angebote der Bahn für das Recht der Grundbuchverschmutzung sind angesichts der Wertminderungen der Häuser äußerst bescheiden. Es soll nur eine grundstücksbezogene Entschädigung bezahlt werden. Der Vermögensverlust, der sich aus der Wertminderung des Gebäudes ergibt, wird dabei nicht berücksichtigt. Auch die von der Bahn vorgeschlagenen Haftungsregelungen sind für viele der Betroffenen angesichts der Risiken des Tunnelbaus nicht akzeptabel. Hier sind die Netzwerke mit der Geschäftsleitung der Stuttgart-Bahn GmbH seit über einem Jahr im Gespräch.

Stark und unmittelbar betroffene Bürger, denen wegen des Projektes ein Vermögensschaden droht, können sich allein mit einer starken Beteiligung am Planungsprozess nicht zufrieden geben. Das Damoklesschwert der Enteignung zur Erzwingung der Eintragung der Unterfahrrechte hängt für viele an einem seidenen Faden. Bei einer Unterfahrung von weniger als 10 Metern kann der Vermögensverlust die Existenz gefährden.

Meine Frau und ich haben einen hohen Schuldenstand in Kauf genommen, damit wir das Haus 1979 erwerben konnten. Mittlerweile haben wir die gleiche Kaufsumme nochmals in eine denkmalgerechte Sanierung gesteckt. Für einen Freiberufler wie mich ist so ein Haus Teil der Altersversorgung. Wir hatten einen schönen Ausblick auf den Stuttgarter Talkessel mit Schloßgarten. Wenn Sie einen Blick auf die Baustelle am Hauptbahnhof werfen wollen, dann klicken Sie auf www.fluegel.tv .

Die Netzwerke 21 sind jedoch nicht nur ein Lobbyverein der Eigentümer. Wir sind keine Investoren, die weiterziehen, sobald die Entschädigung für die Unterfahrung bezahlt ist. Wir leben mit vielen Mitbürgern zusammen, die wie wir durch die Baumaßnahme selbst stark betroffen sind. Viel von ihnen haben Einwendungen erhoben, obwohl sie keinen Vermögensschaden zu befürchten haben. Sie haben Zweifel, ob das Projekt insgesamt vernünftig und sinnvoll ist. Für solch ein großes und komplexes Projekt darf nicht nur mit einer aufwändigen Promotionskampagne geworben werden. Die Kampagne muss auch die Risiken deutlich offenbaren und zwar vor der Entscheidung.

Die Netzwerke 21 nehmen für sich in Anspruch, sowohl öffentlich rechtliche Belange als auch private Interessen sachlich zu vertreten. Die fortschreitenden Baumaßnahmen werden unsere Lebensqualität auf Jahre mindern. Schon deshalb wird unsere kritische Begleitung des Projektes nicht nachlassen. Zusätzlich zu all diesem Ärger werden wir jedoch einen signifikanten Vermögensschaden nicht klaglos hinnehmen.

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