Wenn vom Baulärm bei Stuttgart 21 mittlerweile die Rede ist, dann geht es meistens um die Belastungen durch die unterirdischen Spreng- und Meißelarbeiten, die die Bahn beim Vortrieb für den Bau der geplanten 59 Kilometer Tunnel unter der dicht besiedelten Großstadt einsetzt. Fast in Vergessenheit geraten ist der Dauerlärm, dem die Anwohner an den Tunnelzwischenangriffen ausgesetzt sind. An sieben Tagen die Woche rund um die Uhr laufen die Bauarbeiten mit der Baulogistik für den Tunnelaushub und die Anlieferung von Baumaterial.
Dabei geht die größte Belastung an den Zwischenangriffen vom Dauerlärm der Ventilatoren für die Tunnelbelüftung aus. Die Lärmpegel steigen in der Regel mit fortschreitendem Vortrieb, da eine längere Strecke belüftet werden muss. Dass die Tunnelbelüftung immer lauter wird, ist auch im Kernerviertel an der Rettungszufahrt Süd oberhalb des Wagenburgtunnels deutlich hörbar. Das nahgelegene Wohngebiet entlang der Urban-, Schützen-, Kerner-, Wera- und der Moserstraße wird mit einem lauten Dauerbrummton beschallt. So laut, dass man sich fragt, ob dies noch zulässig sein kann.
Über die Dauerbeschallung hatte sich im Februar auch ein Anwohner vom gegenüberliegenden Kriegsberg bei der Bürgerbeauftragten Alice Kaiser beschwert. Er erhielt am 28.2.2017 folgende Antwort: „Nach Rücksprache mit dem Immissionsschutzbeauftragten und Durchsicht der Messprotokolle, liegen allerdings keine Überschreitungen an der Bewetterungsanlage am Portal der Rettungszufahrt Hbf Süd/ Wagenburgtunnel vor. Dass die Baustelle dennoch wahrzunehmen ist, steht außer Frage und wird deshalb auch weiterhin von uns hinsichtlich der Immissionen streng überwacht.“
Eigentlich müssten nach dem Messkonzept alle 4-6 Wochen schalltechnische Messungen für jeweils 7 Tage durchgeführt werden. Trotz Nachfragen wurden die Messberichte wieder einmal seit einem halben Jahr auf der Webseite der DB Projekt Stuttgart-Ulm GmbH nicht veröffentlicht. Der letzte Messbericht stammte von Mitte Oktober 2016. Das Netzwerk Kernerviertel sah sich erneut gezwungen, einen Antrag auf Einsicht nach dem Umweltinformationsgesetz (UIG) beim Eisenbahn-Bundesamt (EBA) zu stellen. Bereits im letzten Frühjahr hatte das Netzwerk Kernerviertel die Bahn bzw. die DB Projekt Stuttgart-Ulm GmbH (PSU) darauf hingewiesen, dass die gemessenen Lärmpegel bereits deutlich über den nächtlichen Prognosewerten liegen, obwohl nur zwei der vorgesehenen vier Lüfter montiert sind und zum Teil in den Prognosen eingerechnete Lärmquellen, wie die Pumpen für die Hebungsinjektionen, noch nicht anfallen.
Auf den UIG-Antrag des Netzwerks wurde jetzt am Freitag zumindest ein weiterer Messbericht mit Messungen vom 16.-22. Januar 2017 veröffentlicht. Lesen Sie hier. Doch dieser Bericht zeigt, dass die Prognosewerte während des Nachtzeitraums zwischen 20 und 7 Uhr massiv überschritten wurden. Als nächtliche Maximalwerte für das neben dem Messpunkt gelegene Wohnhaus Urbanstraße 62 a hatte das Gutachterbüro Fritz GmbH, dessen Geschäftsführer zugleich als Immissionsschutzbeauftragter bestellt ist, im schalltechnischen Detailgutachten vom Oktober 2015 (für die Lastfälle 1-3 / Lastfall 4 ist incl. zusätzlicher Nachtbauarbeiten) Pegel von 52,7 bis 54,4 dB(A) prognostiziert. Hier ein Foto aus dem Messbericht von der BE Rettungszufahrt, dem Messpunkt und dem Wohngebäude:
Die Messdaten von Mitte Januar 2017 zeigen, dass die im Bericht aufgelisteten LAfeq-Pegel mit durchschnittlich über 62 dB(A) deutlich darüber liegen. Die maßgeblichen Werte des LTmax,5s im Anhang weisen sogar noch höhere Werte im Nachtzeitraum von über 64 dB(A) aus! Damit stimmt unseres Erachtens die auf Beschwerden hin geäußerte Aussage des Immissionsschutzbeauftragten Peter Fritz nicht, dass die Immissionswerte an der Rettungszufahrt Süd nicht überschritten wurden. Sie liegen im Nachtzeitraum um bis zu 10 dB(A) über seinen ursprünglichen Prognosewerten für das daneben liegende Wohnhaus Urbanstraße 62 a. Dabei bedeutet eine Steigerung um 3 dB(A) eine Verdoppelung der Schallleistung. Eine Steigerung von 10 dB(A) wird als doppelt so laut wahrgenommen. Und der nach der geltenden AVV-Baulärm maximal zulässige nächtliche Spitzenpegel für ein Wohngebiet von 60 dB(A) wurde an diesem Messpunkt in 95% der Zeit überschritten.
Damit ist die PSU verpflichtet, entsprechende Maßnahmen zur Pegelminderung zu ergreifen. Denn nicht nur der Spitzenpegel der AVV-Baulärm, sondern auch die verfassungsrechtliche Zumutbarkeitsgrenze bei nächtlichem Dauerschall von 60 dB(A) war deutlich überschritten, oberhalb derer der Staat zur Abwehr einer Gesundheitsgefährdung nach Art.2 Abs.2 Satz 1 des Grundgesetzes verpflichtet ist. (siehe auch Folie aus dem Vortrag des Stuttgarter Rechtsanwalts Bernhard Ludwig). Letzte Messungen des Netzwerks mit einem einfachen Schallmessgerät weisen weiterhin am Wohngebäude Urbanstraße 62 a Messwerte von über 60 dB(A) auf. Nicht nachvollziehbar ist auch, dass der TÜV Stuttgart in seinem Messbericht weder auf die Überschreitung des nach der AVV-Baulärm geltenden maximalen nächtlichen Spitzenpegels noch auf erforderliche Gegensteuerungsmaßnahmen hinweist.
Übermorgen findet wieder eine Informationsveranstaltung im Rathaus für die Anwohner des Kernerviertels statt. Das Netzwerk hatte im Vorfeld der Bürgerbeauftragten einen Fragenkatalog zugeschickt, darunter auch die Frage nach den schalltechnischen Messwerten an der BE Rettungszufahrt. Der aktuell veröffentlichte Messbericht zeigt, dass es erforderlich ist, dass die Bahn auf dieser Veranstaltung erläutert, welche konkrete Maßnahmen zur Lärmreduzierung in den letzten Monaten versucht wurden bzw. welche noch geplant sind. Und die aus Sicht des Netzwerks bestehende Diskrepanz zwischen den Messwerten und der beschwichtigenden Aussage des Immissionsschutzbeauftragten sollte geklärt werden.
Auch wenn der Durchbruch der erste Röhre des Obertürkheimer Tunnels voraussichtlich noch in den nächsten Wochen ansteht und sich damit wahrscheinlich der Lärmpegel wegen des niedrigeren Lüftungsbedarf kurzfristig reduzieren wird. Anschließend muss die Tunnelbelüftung für die geplanten Vortriebe des Anfahrbereichs, der Wendekaverne und der zweiten Röhre des Obertürkheimer Tunnels sicher gestellt werden, ohne dass der zulässige maximale nächtliche Lärmpegel für die nahe gelegenen Wohnhäuser überschritten wird.