Bahn reagiert auf Kritik wegen unterschätztem Anhydrit-Risiko. Doch was ist davon zu halten?

Die Bahn  bzw. die DB Projekt Stuttgart-Ulm GmbH (PSU) hat auf die Berichterstattung zum unterschätzten Tunnelbaurisiko durch Anhydrit reagiert und zu einem Pressegespräch mit ihrem Sachverständigen für den Tunnelbau, Prof. Dr-Ing. Walter Wittke (WBI) geladen. Dem Pressegespräch ging eine Pressemitteilung (hier) voraus, in der trotz des Risikos die Sicherheit des Bauverfahrens dank der jahrelangen Forschungsarbeit  und praktischen Erfahrung ihres renommierten Sachverständigen betont wird. Unter seiner Beteiligung sei die sichere Durchfahrung von insgesamt 3,6 Kilometer Anhydrit entlang der S-Bahn-Wendeschleife, des Hasenbergtunnels und des Heslacher Tunnels  realisiert worden.

So heißt es in der Pressemitteilung: „Der weltweit renommierte Tunnelbauexperte Prof. Dr.-Ing. Dr.-Ing. E. h. Walter Wittke, der die Projektgesellschaft berät, betont: „Wir tun bei Planung und Bau der Tunnel im quellfähigen Gebirge alles dafür, um Schäden an Gebäuden und eine Beeinträchtigung des späteren Bahnbetriebs zu vermeiden.“ […] Für Stuttgart 21 sind hingegen bereits über die Hälfte der relevanten Anhydritlinsen erfolgreich durchfahren worden, ohne dass es zu nennenswerten Quellerscheinungen gekommen ist: Die quellbedingten Verschiebungen liegen zwischen null und wenigen Millimetern. […] Für Stuttgart 21 sind insgesamt rund 59 Kilometer Tunnel vorzutreiben oder auszuheben. Davon liegen 15,8 Kilometer im anhydritführenden Gipskeuper. Von den bisher bereits aufgefahrenen rund 23 Kilometern befinden sich 3,7 Kilometer im Anhydrit. Durch trockenes Arbeiten, vorauseilende Injektionen von Polyurethan in wasserführende Schichten, den Bau von Abdichtungsbauwerken und nachlaufende Injektionen gelingt es, Wasserzutritte in den Anhydrit zu vermeiden bzw. auf ein Minimum zu reduzieren. Auch die Form des Tunnelquerschnitts hat einen entscheidenden Einfluss auf die Wasserzufuhr. So verhindert das neu eingesetzte U-Profil, dass sich in den Zwickeln unterhalb der Innenschale des Tunnels Wasser ansammeln kann. „Dieses neue Bauverfahren hat sich bestens bewährt“, sagt der für die Tunnel Bad Cannstatt und Feuerbach zuständige Projektleiter Christoph Lienhart, „die besondere Geometrie ermöglicht einen schonenden Umgang mit dem Gebirge, um so Quellvorgänge zu vermeiden.“ 

Der SWR (hier) und die beiden Stuttgarter Zeitungen (hier) berichteten darüber. Die StZN schreibt: „Bisher hat die Bahn allerdings erst 21 Prozent (1150 Meter) der im Anhydrit liegenden Abschnitte des Feuerbacher Tunnels gebohrt, nach Bad Cannstatt sind es acht, nach Obertürkheim 17, beim Fildertunnel wurde der Anhydrit noch gar nicht erreicht. Die gefürchteten Hebungen habe man an der Tunnelsohle bisher mit maximal fünf Millimeter registriert. Bis zu zehn Zentimeter könnten später durch das Einstellen der Gleise ausgeglichen werden.“  Auf der Parkschützerseite finden sich Links zu Aufnahmen des Pressegesprächs.

Unfassbar ist, dass der Tunnelbausachverständige der Bahn das KPMG-Gutachten nicht kennt. So schreibt die StZN: „Das Papier, das die Projektpartner in Aufruhr versetzt, kenne er nicht. Er wolle sich nicht dazu äußern. Man könne „nicht in einen wissenschaftlichen Diskurs einsteigen“, sagt Hamann. Basler & Partner kritisieren, dass die Bahn sich auf einen Gutachter allein verlasse. „Sie müssen sich keine so großen Sorgen machen, wie die Kollegen das tun“, beruhigt Wittke. Sein Büro habe Jahre Forschungs- und Entwicklungsarbeit hinter sich. Stuttgart sei, da man schon an S-Bahn-Tunneln im Anhydrit mitgewirkt habe, bekanntes Terrain. „

Eine sichere Durchfahrung des quellfähigen Anhydrits beim Tunnelbau liegt im Interesse aller – selbstverständlich auch dem der betroffenen Anwohner und Eigentümer. Man mag sich jedoch an Goethes „Faust“ erinnert fühlen: „Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube,“. Die Bahn argumentiert weiterhin wie bisher, obwohl ihre eigenen Gutachter der KPMG /  Ernst Basler + Partner ähnlich wie der von den Netzwerken beauftragte Geologe Dr. Hermann Behmel zu einer ganz anderen Risikobewertung gelangt sind:

  • Seit Planungsbeginn von Stuttgart 21 stützt die Bahn sich zur Beurteilung der „höchst komplexen Anhydrit-Problematik“ auf einen einzigen Experten. Auch jetzt nachdem die Bahn öffentlich unter Druck gerät, wird kein weiterer renommierter Geotechniker hinzugezogen bzw. präsentiert, der die absolute Sicherheit der gewählten Baumethoden von 15,8 Kilometern Tunnelbau im quellfähigen Gestein bestätigt.
  • Bei den angewandten neuen Bauverfahren handelt es sich um Prototypen, die in dieser Kombination noch nicht den Praxistest bestanden haben. Das Bauverfahren für den Cannstatter und Feuerbacher Tunnel wurde gegenüber dem das noch 2010 in der Schlichtung präsentierten komplett neu konzipiert. Statt Tunnelquerschnitten mit kreisrunden Profil und Knautschzonen nach dem Ausweichprinzip werden jetzt  u-förmige Tunnelquerschnitte nach dem Widerstandsprinzip gebaut. Zusätzlich wird Kunstharz rund um den Tunnel zur Abdichtung der Wasserwege injektiert.
  • Weder die in der Schlichtung vorgestellten Sicherungsmaßnahmen der Abdichtungsbauwerke („Gürtel und Hosenträger“) noch das zusätzliche Verfahren der Kunststoffinjektionen decken nach Einschätzung der KPMG-Gutachter das Risiko Anhydrit ab, bei dem es „keine bautechnische Lösung gibt, welche eine risiko- bzw. unterhaltsfreie Nutzungsdauer von Jahrzehnte, erst recht nicht bis zur üblicherweise geforderten Nutzungsdauer von 100 Jahren, zuverlässig sicher stellen kann.“
  • Auch das in der Pressemitteilung erwähnte neue Bauverfahren mit dem U-Profil beim Cannstatter und Feuerbacher Tunnel wird kritisch gesehen. So heißt es in dem dem Aktionsbündnis, dem SWR und der StZ vorliegenden KPMG-Gutachten u.a.: „Der Nutzen der zusätzlich ausgebrochenen und mit Spritzbeton verfüllten Ecken in der Sohle des U-Profils zur Minimierung der seitlichen Kluftbildung ist aus unserer Sicht fragwürdig. Ausbruchsbedingt treten Sprödbrüche auf, wodurch die Gebirgsdurchlässigkeit erhöht und ein Quellvorgang ausgelöst werden kann. Bei einem U-Profil sind diese Sprödbrüche bei weitem ausgeprägter als bei einem Kreisprofil.“
  • Die Bahn plant den Cannstatter und den Feuerbacher Tunnel ein bis zwei Jahre nach dem Vortrieb mit der Spritzbetonausbruchsicherung stehen zu lassen, bevor das Innengewölbe betoniert wird. Laut den Gutachtern besteht während dieser Sicherheitsmaßnahme ein Risiko, dass Quelldrücke allein auf die Ausbruchsicherung wirken und dann zusätzlich diese Schäden vor der Innenverschalung des Tunnels behoben werden müssen. Die Eintrittswahrscheinlichkeit schätzen sie auf 20- 50%.
  • Trotz der von der Bahn gewählten Sicherungsmethoden muss nach Einschätzung der Gutachter „dennoch damit gerechnet werden, dass es zu Wasserzutritten kommen kann. Die Erfahrung zeigt, dass „Tunnelbau ohne Wasser“ nicht möglich ist. Insofernhalten wir es nicht für realistisch, dass das Quellen des Anhydrits mit absoluter Sicherheit vermieden werden kann.“
  • Die Gutachter verweisen auch auf ein Begehung des Cannstatter Tunnels, bei „sowohl in der Sohle direkt bei der Ortsbrust wie auch bei den Ulmen in einer Entfernung  von ca. 500 m von der Orstbrust wurden im Vortrieb 3 a [Cannstatter Tunnel] Wasserzutritte festgestellt“. Auch ein Mitglied des Netzwerks Killeberg bemerkte bei einer Ortsbegehung im Feuerbacher Tunnel im Bereich der Übergangszone eine Vielzahl von feuchte Flecken.
  • Der Sachverständige für den Tunnelbau der Bahn, Professor Wittke, verweist seit Jahren auf seine zugegebenermaßen positiven Erfahrungen beim Bau der Wendeschleife und dem Hasenbergtunnel. Doch sind diese Tunnel mit den geplanten Tunnel für Stuttgart 21 vergleichbar? Der vom Netzwerk Killesberg und Umgebung beauftragte Geologe Dr. Hermann Behmel schrieb 2013 in seiner Präsentation anlässlich der Planänderung zum Grundwassermanagment: „Im Vergleich zum Hasenbergtunnel werden die stärker bebauten Gebiete Kriegsberg, Killesberg, Wartberg, Feuerbach, Kernerviertel und Stuttgart Ost mit einer größeren Anzahl von Tunnelröhren unterfahren. Eine größere Zahl tektonischer Störungen, Anhydrit- und Auslaugungsfronten werden in viel kürzeren Abständen viel häufiger gequert. Der schmale Bergsporn des Hasenbergs hat einen hohen Oberflächenabfluss der Niederschläge, geringe Versickerungsraten und geringe Wasserzutritte durch die Störungen. Die größeren Flächen Killesberg und Gablenberg haben höhere Versickerungsraten mit einer größeren Wahrscheinlichkeit des Wasserzutritts in den Anhydrit. Schäden an Rohrleitungen und Gebäuden sind auch außerhalb den Beweissicherungsgrenzen nicht auszuschließen. Die Beweissicherungsgrenzen sind daher nach der geologischen Struktur parzellenscharf auszuweisen“.
  • In der Pressemitteilung wird auch auf die sichere Durchfahrung des Heslacher Tunnels abgehoben. Nicht erwähnt wurde, dass sich nach Information des am Bau beteiligten Geologen Dr. Dieter Nagel vier Jahre nach Baubeginn  die Geländeoberfläche im unteren Teil der alten Weinsteige in ca. 70 Metern Überdeckung um 2-3 cm gehoben hat. Schäden an den Gebäuden waren damit verbunden. Es gab also entgegen der Pressemitteilung der PSU Hebungen beim Bau des Heslacher Tunnels.
  • Auch die KPMG-Gutachter ziehen als zusätzliche Referenz für die Eintrittswahrscheinlichkeit die Erfahrungen mit anderen im Anhydrit gebauten Tunneln heran. Als besonders kritisch sehen sie die Tunnel, in denen der Tunnelquerschnitt den Anhydritspiegel anschneidet. Dies ist insbesondere unter dem Killesberg beim Bau des Cannstatter und Feuerbacher Tunnels der Fall. So heißt es im KPMG-Gutachten: „Als zusätzliche Referenz für die Eintrittswahrscheinlichkeit
    beziehen wir uns auf die Stellungnahme von Prof. Dr.-Ing. W. Wittke zum Gesprächsprotokoll EBP, in welcher diverse gebaute Tunnel im Anhydrit aufgeführt sind (vgl. Abbildung 10). Sieben der genannten Tunnel befinden sich in einer geologisch mit S21 vergleichbaren Situation (Anhydritspiegel im Bereich des Tunnels); bei fünf davon traten Hebungen auf, bei vieren auch relevante Schäden. Auch ohne weiterführende Analyse der jeweils relevanten Gesamtlängen der kritischen Bereiche in diesen Tunnels ist dies nach unserer Auffassung ein klares Indiz für das Vorhandensein von Hebungs-Risiken bei einem Tunnel, welcher den Anhydritspiegel anschneidet.“
  • Allerdings schätzen die Gutachter die Eintrittswahrscheinlichkeit für das Worstcase-Szenario, dass sich die Innenschale eines S21-Tunnels mehr als 10 cm hebt und die Inbetriebnahme wegen Tunnelsanierung verschoben werden muss, je nach Röhre zwischen 0,5 bis 13,5% ein. Bei der Eintrittswahrscheinlichkeit für Schäden an den Gebäuden an der Geländoberfläche rechnen sie mit 50% des o.g. Risikos, sprich zwischen 0,25% und 7,75%. Diese Berechnung gilt jedoch nur bis zum Inbetriebnahmetermin. Eine weitergehende Risikoabschätzung haben sie in ihrem Gutachten nicht vorgenommen.
  • Nur am Killesberg sind die Gebäude, die unmittelbar über dem Tunnel im Anhydrit liegen, in einer Beweissicherungszone. Diese sind in der biss-Karte zu ersehen. Keine Beweissicherungen sind an der Uhlandshöhe, der Gänsheide, Gablenberg, der Wangener Höhe und Degerloch erfolgt bzw. vorgesehen. Angesichts des Risikos hatte der von den Netzwerken beauftragte Geologe Dr. Behmel vergeblich eine Ausweitung der Beweissicherungsgrenzen nach der geologischen Struktur gefordert.
  • Doch auch eine Beweissicherung kann die Eigentümer nicht vor einem Rechtsstreit mit der Versicherung der Bahn schützen, wenn die Quellbewegungen bzw. Hebungen erst nach Jahren einsetzen. Die Netzwerke fordern daher Garantien von der Bahn und dem Bund, dass alle mit dem Tunnelbau verbundenen Schäden vollumfänglich übernommen werden.
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