Im Zuge der Berichterstattung über den Durchbruch beim Ulmer Albabstiegstunnel gab es aus Stuttgarter Sicht doch Erstaunliches zu lesen. So berichtet die Stuttgarter Zeitung (hier) u.a., dass die Bahn auf 600 Meter Streckelänge im Nachtzeitraum die „lämintensiven“ Arbeiten ganz „eingestellt“ habe. Auch die Südwestpresse (hier) berichtete darüber, dass Sprengungen nur noch am Tag stattfinden. Einige Anwohner hätten so Projektleiter Stefan Kielbassa „die spürbaren Erschütterungen als unangenehm empfunden, was stark von der lokalen Geologie und auch von der Konstruktion des Gebäudes abhängt, in dem man sich befindet“.
Da können sich die von den nächtlichen Sprengungen oder Meißelarbeiten in Stuttgart betroffenen Anwohner nur fragen, warum eine nächtliche Unterbrechung des Tunnelbaus in Ulm unter dem Michelberg möglich ist. Und in Stutttgart beim Tunnelvortrieb für Stuttgart 21 den Anwohner nur die Wahl zwischen Pest oder Cholera bleibt. Liegt dies am Ende weniger an tunnelbautechnischen Zwängen als an der Tatsache, dass der Stuttgart 21- Tunnelbau dem Zeitplan deutlich hinterher hinkt?
Wie die beiden Stuttgarter Zeitungen letzten Freitag berichteten, hat die dem Regierungspräsidium Freiburg unterstellte Landesbergdirektion jetzt auch noch eine nächtliche Sprengung pro Gleis im Zeitraum zwischen 22 bis 24 Uhr freigegeben. Das Regierungspräsidium schreibt in seiner Pressemitteilung (hier):
„…Damit Anwohner so wenig wie möglich gestört werden, hat das RP an diese Sprengungen strenge Auflagen geknüpft, da bei einer geringen Überdeckung die DIN-Anhaltswerte nicht immer zuverlässig eingehalten werden können. So dürfen bei der freigegebenen Sprengung an einem Immissionsort zwischen 22 und 24 Uhr pro Gleis die Anhaltswerte der DIN 4150 Teil 2 nur einmal überschritten werden. Die Behörde hat der Antragstellerin zur Auflage gemacht, dass die Erschütterungsimmissionen durch die Wahl der Sprengparameter bis an die Grenze des technisch Vertretbaren minimiert werden.
Erklärtes Ziel aller Beteiligten ist es laut der Pressemitteilung des Regierungspräsidiums Freiburg, Erleichterungen für die betroffene Bevölkerung zu schaffen. Auch Bürgerinnen und Bürger hatten um die Freigabe von nächtlichen Sprengungen gebeten, da sie sich durch ein solches einmaliges Ereignis pro Nacht weniger belästigt fühlen als durch den durchgängigen Meißelbetrieb nachts…“.
Abgesehen davon, dass dem Netzwerk Wangen/Untertürkheim kein einziger Anwohner des Lindenschulviertels bekannt ist, der sich für eine Ausweitung der nächtlichen Sprengungen bei der Landesbergdirektion einsetzte, weist diese Genehmigung zahlreiche kritische Punkte auf:
- Die nächtlichen Sprengungen finden in einer für den Tunnelbau extrem knappen Überdeckung statt. Zwar weist die Biss-Karte 23 Meter Tunneltiefe auf, aber davon müsssen noch 10 Meter von der Schienenunterkante bis zum Tunnelfirst und weitere Meter für die Unterkellerung der Wohngebäude abgezogen werden.
- Bei den nächtlichen Sprengungen müssen nachts nicht einmal mehr die durch die Planfeststellung auferlegten Anhaltswerte der DIN 4150 Teil 2 für Erschütterungen eingehalten werden. In Ulm argumentierte der Projektleiter hingegen in der Südwestpresse (hier): „Der Mensch ist sehr sensibel und merkt die Erschütterungen, lange bevor sie die Werte der DIN-Norm erreichen“, erklärte Kielbassa. Diese Norm muss von den Bauträgern während der Arbeiten eingehalten werden. „Tag und Nacht“, fügte er hinzu.
- Den Anwohner wird mit der Sprengpause zwischen 24 Uhr und 6 Uhr gerade einmal eine sechsstündige Nachtruhe eingeräumt. Dass Kinder und viele Erwachsene deutlich mehr Schlaf pro Nacht benötigen, ist eine Selbstverständlichkeit.
- Überraschende extreme Lärm- und Erschütterungseinwirkungen im Schlaf können bei Kindern zu Traumatisierung führen. Auch Erwachene sind vor den gesundheitlichen Folgen dieser Sprengungen nicht geschützt.
- Die angebotenen Schutzmaßnahmen einer Hotelunterbringung ist für Familien mit Kindern sowie Anwohner mit pflegebedürtigen Angehörigen kaum zumutbar. Mittlerweile ist die Bahn auch bereit die Kosten einer Ferienwohnung zu übernehmen. Doch das Angebot von Ferienwohnungen ist in Stuttgart sehr rar. Ganz zu schweigen, dass die Ferienwohnung bei schulpflichtigen Kindern auch noch im Umkreis der Schule liegen sollte.
Diese und weitere Kritikpunkte hatte auch Brigitte Lösch als Landtagsabgeordnete des Wahlkreises im Vorfeld der Genehmigung vorgebracht. Lesen Sie hier ihren Schriftwechsel mit dem Umweltminister Franz Untersteller (Schreiben Umweltminister / Mailverkehr MdL Brigitte Lösch – Umweltminister ).
Im Schreiben des Umweltministers wird auch darauf verwiesen, dass noch in keinem Bundesland Erfahrungen mit der Freigabe der nächtlichen Sprengungen bei einer so geringen Überdeckung der Wohnbebauung gemacht wurde:
Fazit: Während die Ulmer über eine Strecke von 600 Meter im Nachtzeitraum keinen lärmintensiven Arbeiten ausgesetzt wurden, sind die Untertürkheimer im Lindenschulviertel bei einer sehr geringen Überdeckung jetzt bundesweit das „Versuchskaninchen“ mit einer Freigabe der Sprengungen bis 24 Uhr. Möglicherweise hat deshalb die Landesbergdirektion die Ausweitung der nächtlichen Sprengzeit bis 24 Uhr ab Januar 2017 vorerst nur für einen Zeitraum von 30 Tagen genehmigt.