Rede von Sabine Reichert, Zukunft Schiene, auf der 199. Montagsdemo am 25.11.2013 zum Tunnelanstich, den Gebäudeschäden durch die Rammarbeiten in Untertürkheim und dem Umgang des Eisenbahnbundesamtes mit den Planfeststellungsauflagen zum Schutz der Anwohner:
Vom sogenannten Südkopf des Halbtiefschrägbahnhofs hier im Mittleren Schlossgarten sollen die Gleise im Fildertunnel unter dem Kernerviertel verlaufen; von diesem sollen zwei weitere Tunnelröhren abzweigen, etwa unterhalb der Jugendherberge in der Werastraße. Sie sollen Richtung S-Gablenberg abbiegen und dann in gerader Linie unter Gablenberg hindurch bis nach S-Wangen führen. Kurz vor dem Neckarufer sollen sich diese beiden Tunnelröhren erneut gabeln: Sie werden also zu vier Tunnelröhren. Alle vier Tunnelröhren sollen den Neckar unterhalb der Flusssohle unterqueren.
So wie der Nesenbachdüker den Bahnhofstrog hier in S-Mitte unterqueren soll, so sollen vier Eisenbahntunnel unter dem Neckar hindurchgeführt werden. Das widerspricht zwar jedem eisenbahntechnischen Sachverstand und allen Vorschriften, und es werden in diesem Bereich bedeutende Mineralwasserströme vermutet, aber das Eisenbahn-bundesamt (EBA) hat es trotzdem genehmigt.
Zwei der Tunnel sollen in Obertürkheim an die Oberfläche kommen in Richtung Esslingen. Die anderen beiden Tunnelröhren machen eine Kurve von etwa 110 Grad in Richtung Bad Cannstatt und kommen beim Untertürkheimer Bahnhof wieder nach oben. Für den Bau dieser Tunnel ist in Wangen der Zwischenangriff Ulmer Straße, wo am 4.12. ein Tunnelanstich inszeniert werden soll. Der Zwischenangriff Benzstraße in Untertürkheim erlangte Ende August durch überlaute Rammarbeiten eine gewisse Berühmtheit.
In Untertürkheim gibt es außerdem einen der beiden Planfeststellungsabschnitte (PFA), die bis heute nicht genehmigt sind: Es ist der Wartungs- und Abstellbahnhof, der PFA 1.6b. Dieses Verfahren ruht. Im Sommer 2010 haben wir unsere Einwendungen abgegeben. Seither passiert: Nichts! Und das seit nunmehr drei Jahren und drei Monaten!
Letztes Jahr im September wollten wir vom Infobündnis Zukunft Schiene kurz den Lärm simulieren, der von dem geplanten Wartungs- und Abstellbahnhof ausgehen soll: 107 dB(A). Die Stadt Stuttgart hat uns das kurz vorher verboten, Zitat: „Sowohl die Lautstärke als auch die Art der […] Schallquelle ist geeignet, das Ruhebedürfnis der direkten Anwohner und Betroffener weit darüber hinaus erheblich zu stören.“
Für den genehmigten Abschnitt 1.6a, den bereits erwähnten Tunnel vom Hauptbahnhof nach Ober- und Untertürkheim ist die Stadt Stuttgart nicht zuständig. Hier hat das EBA der Bahn in Sachen Lärm und Erschütterungen ausdrücklich Auflagen erteilt und Nebenbestimmungen erlassen. Im Planfeststellungsbeschluss (PFB) heißt es auf Seite 37: „Während der Bauzeit hat die Vorhabenträgerin sicherzustellen, dass die Festlegungen der […] AVV Baulärm […] eingehalten werden.“Im Falle von (unvermeidlichen) Überschreit- ungen dieser Grenzwerte ist die Bahn sowohl zu aktiven als auch zu passiven Schutzmaß-nahmen verpflichtet. Vom Anspruch auf Lärmvorsorge und auf Entschädigungszahlungen in Höhe von bis 100 Prozent der Mietkosten ist die Rede. Was passiert mit einer Baustelle, bei der wiederholt gegen Auflagen und Vorschriften verstoßen wird? Sie wird eingestellt – normalerweise. Die Realität sieht leider anders aus: Die Bahn hat dem EBA im Juli 2013 rechtzeitig vor Baubeginn ein Detailgutachten vorgelegt, in dem irre laute Lärmemis-sionen prognostiziert wurden. Das war‘s.
In der Nacht vom 28. auf den 29. August hat die Bahn dann den prognostizierten Höllenlärm vollführt. Das trieb die AnwohnerInnen zu Dutzenden auf die nächtliche Baustelle und führte zur vorübergehenden Einstellung derselben. Warum sowohl die Bahn als auch das EBA angeblich von der Lautstärke der Rammarbeiten überrascht waren, versteht niemand: Die Rammarbeiten waren mit über 120 dB(A) prognostiziert worden. Ausgerechnet von dieser Nacht gibt es keine Lärmmessungen, obwohl die Bahn laut Auflagen des EBA dazu verpflichtet ist. Seither haben an mehreren Wochenenden immer wieder Rammarbeiten an der Benzstraße stattgefunden. Man konnte sie in weitem Umkreis noch als dumpfes Grollen hören. In der Nähe der Baustelle vibriert der Boden. Diese Rammarbeiten sind deutlich leiser als die Ende August. Allerdings überschreitet die Bahn weiterhin mit schöner Regelmäßigkeit die im PFB genannten Grenzwerte.
Wir haben das EBA auf diese nicht genehmigten Überschreitungen hingewiesen und die lapidare Antwort bekommen, es handle sich nicht um Grenzwerte, sondern nur um Richtwerte. Vielleicht sollte das EBA einmal den Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt vom 21.04.2011 lesen: „Die Immissionsrichtwerte […] der AVV Baulärm setzen […] verbindliche Höchstgrenzen fest, die vom Betreiber eingehalten und von der Verwaltung durchgesetzt werden müssen.“
Wer in Untertürkheim wegen der Rammarbeiten nicht schlafen kann und die Polizei ruft, wird am Telefon abgewimmelt mit dem Hinweis „Das ist alles genehmigt, was wollen Sie denn?“ Auch die Bahn behauptet in ihren sogenannten Anwohnerinformationen, dass ausdrücklich auch die besonders lärmintensiven Arbeiten genehmigt seien. Offensichtlich will oder kann das EBA seiner Aufgabe als Aufsichtsbehörde nicht nachkommen. Deshalb haben wir den Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages eingeschaltet. Unser Anliegen wird derzeit vom Petitionsausschuss geprüft.
Bei den Rammarbeiten sind durch die Erschütterungen massive Schäden an einem Wohnhaus in Untertürkheim aufgetreten, das vorher nicht in die Beweissicherung der Bahn aufgenommen worden war. Inzwischen geben sich bei dem Eigentümer Sachverständige und Gutachter der Bahn die Klinke in die Hand. Zurecht fragt der gleichermaßen besorgte und entrüstete Hausbesitzer: „Warum kommt Ihr erst jetzt?“ Risse in einem Wohnhaus sind wirklich schlimm, aber man kann sie sehen. Gesundheitsschäden durch Lärmbelästigung treten erst nach und nach auf. Umso wichtiger wäre es, dass sich die Aufsichtsbehörde darum kümmert, dass die Grenzwerte auch wirklich eingehalten werden.
Und das alles ist erst der Anfang! Wie sieht es aus beim viel beschworenen Schutz des Mineralwassers? Das Amt für Umweltschutz schreibt in seiner Stellungnahme zu den beantragten Planänderungen für das GWM, deren Erörterung am 12. Dezember fortgesetzt werden soll: „Bei konsequenter Einhaltung aller Nebenbestimmungen […] bestehen keine wasserwirtschaftlichen Gründe, die Genehmigung (…) zu versagen.“ Ja, um Himmels willen! Das heißt so viel wie: Auf gar keinen Fall! Denn die Erfahrung zeigt: Wenn etwas erst einmal genehmigt ist, kümmert sich kein Mensch mehr um die Einhaltung irgendwelcher Auflagen und Nebenbestimmungen!
Vieles beim Projekt Stuttgart 21 wurde genehmigt, obwohl es sich am Rande des technisch Möglichen und teilweise sogar darüber hinaus bewegt. Daher wurden vom EBA zahlreiche Auflagen und Nebenbestimmungen erlassen. Was tut dieses EBA? Müssen die Anwohner von sich aus rechtliche Schritte einleiten, obwohl die Aufsichtsbehörde von Amts wegen tätig werden müsste? Müssen wir das EBA wirklich erst durch eine Verpflichtungsklage zum Einschreiten bewegen?
Bereits am 30.09.2010, dem schwarzen Donnerstag, hatte sich das EBA darauf beschränkt, ein Fax zu verschicken, dass wegen fehlender Unterlagen noch keine Bäume gefällt werden dürfen. Kontrolle? Durchsetzung des Fällverbots? Fehlanzeige! Die Bäume wurden gefällt – verbotenerweise.
Der Tunnel zwischen dem Bahnhof und Ober- und Untertürkheim soll übrigens auch durch unausgelaugten Gipskeuper gehen – mit zahlreichen Auflagen und Nebenbestimmungen. Auch für den Brandschutz sind zahlreiche Auflagen vermerkt.
Wenn ich an den Berliner Flughafen denke, der oberirdisch und auf freiem Gelände errichtet wurde – und nicht funktioniert – und dann daran, dass in Stuttgart eine dicht besiedelte Gegend in einem Heilquellenschutzgebiet untertunnelt werden soll – und dass das EBA die Aufsicht hat, dann kann ich nur sagen: Lieber – oben bleiben!
Das Video der Rede von Sabine Reichert finden Sie hier.